untitled-Newsletter 16
Jun 01, 2025 3:06 pm
Hallo werte Leserschaft,
es ist Samstag, der letzte Tag im Wonnemonat Mai. Draußen ist es schwül, die Temperatur fühlt sich schon nach Sommer an, und am Horizont bauen sich dunkle Gewitterwolken bedrohlich auf. Bringen sie den ersehnten Regen oder zerstörerische Sturzbäche oder ziehen sie doch tatenlos vorüber? Mein Freund Thomas schrieb dazu in seinem letzten Newsletter:
Aber was, wenn die Sonne ewig scheint, aber kein Regen mehr fällt? Mir scheint, dem Regen fehlt es an Liebe und Anerkennung, an einer ihm zugewendeten Sprache, die die mit ihm verbundenen Erscheinungen wertschätzt. Schon im letzten Brief an Dich erwähnte ich diesen köstlichen Geruch, wenn die Erde nach langer Trockenheit wieder nass wird, das Geosmin, das für den Petrichor sorgt, zusammengesetzt aus ›Stein‹ und ›Blut der Götter‹.
Meiner Wuppertaler Seele dürstet es nach Regen, nach grauem Himmel und Tropfen, die gegen das Fenster prasseln und sich in kleinen Pfützen sammeln. »Wann wird’s Mal wieder richtig Sommer? Ein Sommer, wie er früher einmal war?« Mit verregneten Sommertagen, an denen man sich drinnen beschäftigen musste und man die Nase gegen die Scheibe drückte, auf der Suche nach dem Riss in der Wolkendecke, der sich am Horizont auftut und durch die die Sonnenstrahlen auf die frisch gewässerten Wiesen und Felder scheint. Aber das sind ferne Erinnerungen …
Fragmente
Es ist schon etwas länger her, dass ich mich hier tiefer mit dem Thema KI auseinandergesetzt habe und in der Zwischenzeit rast der Hype-Express ungebremst weiter. Einerseits stopfen so gut wie alle Software-Firmen generative KI und KI-Chatbots in ihre Programme, ohne das jemand danach gefragt hätte, auf der Suche nach einem Nutzen, einer User-Basis und natürlich vor allem einem Return-Of-Investment (ROI) – allen voran OpenAI, Microsoft mit Copilot und Meta (ehemals Facebook) mit Ihrer Meta AI in Facebook, WhatsApp, Instagram, usw.
Andererseits kommt die Technologie der generativen KIs (auch Generative Artificial Intelligence) immer weiter an ihre Grenzen, sie halluzinieren mehr, die Trainingsdaten werden schlechter und wir verstehen immer noch nicht, wie genau die Algorithmen zu ihren Ergebnissen kommen.
Zwischen den Szenarien einer Menschen-ähnlichen Superintelligenz (auch Artifical General Intelligence), einem Modell-Kollaps, der die derzeitigen KIs in sich zusammen fallen lässt, oder der Übernahme all unserer Jobs, wird sich das, was unter dem Buzzword ›KI‹ verhandelt wird, in absehbarer Zeit weiter in unserem Alltag integrieren. KI ist gekommen, um zu bleiben. Auch wenn die Blase stark aufgeblasen ist, nach dem Platzen wird die Technologie dennoch bleiben.
Im brand-eins-Artikel »Nur KI-ne Panik!« von Christoph Koch vom Herbst 2023 wird die technische Basis der derzeitigen KI-Systeme sehr anschaulich erklärt – und anderthalb Jahre später, hat sich technisch nicht wirklich viel getan. Koch vergleicht in seinem Artikel das Aufkommen der KI mit dem Aufkommen des Photokopierers, der unter den intellektuell Arbeitenden seierzeit einen ähnlichen Aufschrei verursacht hat, wie derzeit KI – und heute ist der Kopierer ein banales Werkzeug.
Es ist also weiterhin ein guter Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, was KI ist und wie eine Zukunft mit dieser Technologie aussehen kann:
Generative KI, wie sie derzeit existiert, habe ich bisher auch als Werkzeug verstanden. tante sinniert in einem Blog-Beitrag darüber, ob KIs überhaupt Werkzeuge sind oder etwas anderes, was er als ›makeshift‹ bezeichnet, also etwa »Notlösung« oder »Provisorum«, da Werkzeugen ihre Verwendung und Zweck einkodiert ist, aber eine (generative) KI, etwa mit einem Text-Prompt, keine klare Funktion habe und ihr Zweck unklar sei.
Hier lässt sich mit Heideggers Theorie und Begriffen von ›Zeug‹ und ›Zuhandenheit‹ ansetzen: Heidegger geht es bei seiner Theorie, die er in Sein und Zeit entfaltet, um ein neues Fundament für die Frage nach dem Sein – so tief müssen wir hier nicht einsteigen, aber es ist der Hintergrund, vor dem die Begriffe aufgebaut werden. Grob gesprochen, ist für Heidegger ›Zeug‹ das, was uns als Dinge im Alltag begegnet und mit denen wir unseren Alltag bestreiten bzw. »besorgen«. Ein Zeug verweist dabei, durch seine Beschaffenheit, auf seinen Zweck und auf anderes Zeug, mit denen es in einem Wirkzusammenhang steht – was ein wesentlicher Aspekt dessen ist, was Heidegger als ›Zuhandenheit‹ bezeichnet. Ein Werkzeug, bzw. Werk-Zeug, ist also – stark vereinfacht – ein spezielles Zeug, mit dem ein Werk erschaffen wird.
Ob KIs nun Werkzeuge sind oder nur Zeug, ist durchaus ein sehr philosophischer Diskurs, der aber die Frage berührt, welchen Stellenwert diese Technologie in unserer Gesellschaft hat. Hier muss man auch beachten, dass KI nicht gleich KI ist und es ganz unterschiedliche Arten von KIs gibt, die je einen anderen Stellenwert haben können. So gibt es bspw. schon lange spezialisierte, selbstlernende Algorithmen, die bspw. Feeds in Social-Media-Apps kuratieren, Inhalte von Bildern erkennen oder Audio-Inhalte transkribieren. Daneben gibt es Assistenz-Systeme, die aus natürlicher gesprochener oder geschriebener Sprache Aktionen ausführen können (sog. ›Agents‹), wie bspw. Siri.
Neal Stephenson, der Autor von Snowcrash, schlägt vor die Intelligenz von KI mit der Intelligenz von Tieren zu vergleichen: Mit manchen Tieren, wie Haustieren, agieren wir (fast) wie auf Augenhöhe; mit anderen Tieren, wie Insekten, teilen wir uns einen Lebensraum, aber die Insekten sind sich unserer nicht bewusst; und mit manchen Tiere, wie Haarbalgmilben an unseren Haaren, leben wir in einer Symbiose, ohne das wir von einander wissen oder unserer Symbiose bewusst sind.
Vielleicht sind Zeug/Werkzeug-Charakter und Grad des Bewusstseins der Existenz von Menschen bzw. einer Außenwelt ein Spektrum, mit denen sich KIs kategorisieren lassen oder sich ihre Wirkmacht einordnen lässt.
Abseits der Diskussionen, was KI ist und wie sie unseren Alltag verändern wird, oder welchen Job die KI als erstes vollständig ersetzen wird, sollten wir die dahinter liegenden Strukturen nicht aus dem Blick verlieren: Für das Training von KIs werden Daten benötigt, für die Copyrights gebrochen werden und Urheber keine Tantiemen erhalten; die Daten müssen aufbereitet werden, sodass sie für das Training überhaupt nutzbar sind – und das geschieht u. a. in Niedriglohnländern, wo Menschen dafür ausgebeutet werden und dabei, ähnlich wie bei Content-Moderation, gefährliche und brutale Inhalte herausfiltern müssen. Und schließlich wird AI von einigen großen Firmen und Investment Funds betrieben, die weiter (Markt-)Macht konzentrieren und nicht umsonst die Nähe zur Politik suchen.
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Men that struggle to express emotion or are living under the constant financial, social, and familial pressures of what society tells them being masculine is, well, apparently they can just kill themselves
Suicide is the biggest killer in men under 50
125 people die by suicide every week according to Calm's website
Toxic masculinity isn’t telling you that masculinity itself is toxic
It’s telling you that toxic masculinity is toxic
So heißt es gegen Ende im gerade erschienen Stück GERM von Kate Nash (YouTube, Spotify). Nicht seine Gefühle artikulieren zu können und unter einem (gesellschaftlichen) Druck zu stehen, als (harter) Mann anerkannt zu werden, das sind Aspekte der sog. toxischen Männlichkeit. Sich ständig der eigenen Männlichkeit vergewissern zu müssen und die Angst zu haben, den Status als »Mann« zu verlieren, gehen damit einher und lassen sich mit dem Begriff der fragilen Männlichkeit beschreiben. Diese Unsicherheit, gerade von jungen und heranwachsenden Männern, bedient einen neuen, erstarkenden Chauvinismus, der sich vor allem auf Social Media verbreitet, wie FunkyFrogBait in ihrem Video-Essay How To Be A MAN (According To Instagram Reels) aufzeigt. Wie diese männliche Identitätskrise und der neue Chauvinismus der neuen Rechten helfen und wie diese zum Erstarken des Faschismus – vor allem gerade in den USA – beitragen, zeigt Bryony Claire in ihrem länglichen Video-Essay The Masculinity Crisis To Fascism Pipeline sehr gut auf.
(Und in einem weiteren Video-Essay beschreibt Bryony Claire, wie (junge) Frauen auf Social Media angesprochen werden, um sich diesem neuen Chauvinismus zu unterwerfen: The Sneaky Right Wing Pipelines For Women.)
Randnotizen
- 📸 Architektur und Bauzeichnungen Flughafen Tempelhof 1936–1963: Die Deutsche Digitale Bibliothek hat die Pläne und weitere Artefakte des Berliner Flughafens Tempelhof online zugänglich gemacht (via Tobias).
- 🌐 Internet Artifacts: Neal.fun hat in einer Online-Ausstellung Artefakte der Meilensteine des Internets vom ARPANET, über die erste Spam-Mail, der ersten Webcam, Flash-Games bis hin zum iPhone zusammengestellt.
- 📸 Fatih Arslan: The Barbican: Das Barbican ist ein großer, brutalistischer Komplex im Herzen von London – eine Stadt in der Stadt – von dem ich vor einigen Monaten zum ersten Mal hörte und der mir seit dem ein paar Mal begegnete, wie zuletzt hier in diesem schönen Photo-Essay von Faith Arslan.
- 🎥 Apple Design: The Twenty Pixels That Changed Design Forever: In diesem kurzen Video-Essay wird beschrieben, wie Apple mit einem alten Konzept eine kleine Designrevolution startete: Der Squircle. Ein abgerundetes Quadrat, das optisch ausgeglichen ist und daher für uns runder wirkt, als ein einfach abgerundetes Quadrat.
- 🎥 The Secret History Of Font Piracy: Vor einigen Wochen machte die Meldung die Runde, dass die Schriftart, die beim Anti-Piracy-Clip »You Would Not Steal A Car« selbst geklaut war. Linus Boman taucht in diesem Video-Essay in die lange Gesichte der Schrift-Piraterie und -Plagiaten ein und warum das bei Schriften alles nicht ganz so einfach und eindeutig ist.
Musik zum Ausgang
Letztes Jahr war hier mein Song des Monats der ESC-Beitrag von Joost Klein Europapa (YouTube, Spotify), einer persönlichen Hymne auf Europa. Und auch dieses Jahr hat mir der ESC einige Ohrwürmer beschert (Looking at you, Estland). Aber mein persönliches Highlight – und ebenfalls Ohrwurm – war der feministische Beitrag von Laura Thorn für Luxemburg: La poupée monte le son (YouTube, Spotify) und deshalb landet dieser auf der Spotify-Playlist zum Newsletter.
Nachwort
Mittlerweile ist es Sonntag Nachmittag, das Gewitter hat sich hier nur mäßig ergossen, während es in anderen Teilen des Landes heftig niederging. Wie die Schwüle des letzten Tages drückte, so zog sich dieses Mal leider auch der Schreibprozess, weshalb der Newsletter etwas später zu euch kommt. Nun hoffe ich auf Sommerregen und wünsche euch eine gute Zeit.
Beste Grüße