Briefe an Irene X - Mai 2025
May 12, 2025 2:50 pm
Wuppertal, Montag 12. Mai 2025
Liebe Irene,
wie geht es Dir heute, an diesem sonnigen Tage? Warst Du schon draußen und hast den freien Blick in diesen riesigen, über uns aufgespannten, blauen Sonnenschirm genossen? Weit und breit keine einzige Wolke! Du weißt ja, dass ich mich für Wolken interessiere. Sie seien Zeichen der Glückseligkeit der Götter, Zeichen für die Launen der Zeit schrieb Stéphane Audeguy. In »Stufen« von Hermann Hesse fand ich ein schönes und feines, kleines Gedicht über eine leise Wolke:
Eine schmale, weiße
Eine sanfte, leise
Wolke weht im Blauen hin.
Senke deinen Blick und fühle
Selig sie mit weißer Kühle
Dir durch blaue Träume ziehn.
Hermann Hesse
Nach getaner Arbeit lag ich am Sonntagnachmittag für fünf schmale Minuten einmal faul auf unserer Gartenbank und blickte in den Himmel. Und da zog sie dann vorüber, die feinen Flocken verschwammen vor meinen Augen und dann hatte sie sich auch schon ganz aufgelöst in diesen Himmel, glänzend wie Gloriaseide. (Ein Begriff aus dem Gedicht »Gewitterregen« des ostdeutschen Lyrikers und Prosaisten Wulf Kirsten.)
Und während die Lyriker über die schöne Frühlingszeit schreiben, sind wir im Garten und arbeiten. Im Gedicht »An die Nelke« nannte Rudolf Alexander Schröder den Garten die »schöne Freundin, die mich treu durch das ganze Jahr begleitet«.
Letztes Jahr haben wir den Garten zu Gunsten anderer Aktivitäten etwas vernachlässigt, das wollten wir in diesem Jahr ausgleichen. Leider sind wieder viele Stauden in unserer schweren Erde eingegangen, also sind wir am Freitag Blumen einkaufen gefahren. Zuvor kauften wir zur Bodenverbesserung einen ganzen Kofferraum voll Sand beim Baustoffhändler in Wuppertal-Ronsdorf, der freundlicherweise immer noch Urspruch heißt, auch wenn jetzt ein neuer Inhaber übernommen hat. Ich mag den Klang des Wortes. Hier kann man einfach Sand mit Eimern abholen. Und die Eimer dann in den Kofferraum wuchten, schwere Arbeit. An Blumen sind, neben Lavendel, den wir beide, wie Du weißt, sehr mögen, noch eine Menge anderer schöner Pflanzen im Korb gelandet:
- sanft wehender Nelkenwurz in einem sehr freundlichen Orange - Geum Totally Tangerine
- blau grüßende Garten-Blauköpfchen - Jasione laevis Blaulicht
- zarte Feinstrahlasters Erigeron Hybride Rosa Juwel
- leuchtenden Phlox (Flammenblume) Paniculata Hybride Kirchenfürst
- hochragende Lupinen Lupinus Gallery Blue Shades
- struppige Raublattasters Aster novae-angliae Purple Dome
- sich leicht im Wind biegende Lichtnelken - Lychnis viscaria Splendens
- lang und wunderschön blühende Katzenminze - Nepeta Purrsian Blue
- schlanke Zwerg-Schwertlilie Iris Barbata-nana-Hybride Azurea
- viel blühende Verbenen bonariensis
Dazu haben wir noch drei Pfingstrosen gepflanzt und abgestorbenen Thymian durch eine Vielzahl von verschiedenen Thymian-Neupflanzungen ersetzt. Auch im Gemüsebeet ging es jetzt endlich voran, nachdem es wegen Kälte, Frühjahrsmüdigkeit und anderer Projekte so lange brach lag. Der erste Salat ist gepflanzt, die Zucchini sind im Boden, ebenso die Gurken. Möhren sind gesät, Zwiebeln in schnurgeraden Reihen dazwischen gesteckt. Alle Beete sind gehackt, gedüngt und nur an ein paar Stellen tun sich noch zu füllende Lücken auf.
Am Tag danach schweift mein Blick über die neugestalteten Flächen. Ich mag es, wie die Blüten des Nelkenwurz im Wind schaukeln. Wie Hummeln und Wildbienen Landeversuche auf den vielen Salbeiblüten unternehmen. Im Hintergrund machen sich bereits, sehr früh in diesem Jahr, die Rosen bereit. Die Ispahan erfüllt die Dämmerung schon jetzt vereinzelt mit ihrem rätselhaften rosafarbenen Blütenzauber, unsere Ramblerrose Rambling Rector hat schon – in dieser kurzen Zeit seit Ende März – meterhohe Schößlinge gebildet, auch aus dem alten Holz. Viele Hundert von winzigen Blütenknospen hat die schöpferische Natur gestaltet, die jetzt jeden Tag aufbrechen können und den weißen Blütenblättern den Weg an Licht zur Sonne ermöglichen — und den summenden Bienen den Zugang zum süßesten Nektar. Jetzt fehlt nur nur die Feengabe des Sommers, wie Horace Walpole (1717– 1797) es in seinem 1785 geschriebenen Essay »Über die neuere Gartenkunst« formulierte. Vielleicht fahren wir mit all unserer Liebe und unserer Zuneigung zu unserem Garten und den Pflanzen in ihm, ja dieses Jahr auch eine essbare Ernte ein? Genuss pur ist der Garten jetzt schon und die täglichen Runden, an den sich jeden Tag verändernden Pflanzen entlang, sind eine Wohltat für die vom Klimawandel und Kriegen besorgte Seele.
Es ist Mai und dem Mai ist zu eigen, das er so rasend schnell vorbei ist, findest Du nicht auch? Gerade erst verzaubert er uns mit all seinem schönen, heiteren und hellen leuchtenden Grün. Hellmeergrün, wie der Schal eines 54jährigen Mütterchens (von Arnim), seltener in Rinmans Grün (Cobaltoxid und Zinkoxid), benannt nach dem Schweden Sven Rinmann oder das nach ihrem Erfinder William Hooker benannte Hookersgrün (Rezept aus Preußischblau und Kambodscha-Gelb ist verschwunden) dafür öfter Maigrün, Wiesengrün, Grasgrün, Berggrün, Laubgrün, Schilfgrün - alle Grüns in ihren unterschiedlichen Tiefen und Variationen leuchten unter den Strahlen der Sonne um die Wette.
Der Mai ist bestimmt vom Reichtum der Schönheit, wie William Howitt (1792 – 1879) in seinem »Book of the Seasons« aufschrieb. Weiter schrieb er – das Buch erschien 1831 – »Es gibt herrliche Abende, klar, heiter und lau, die uns dazu verleiten, unseren Spaziergang bis nach Sonnenuntergang fortzusetzen. Wir sehen um uns herum goldene Felder mit Hahnenfuß und Vieh, das sich im Überfluss sonnt. In den Winkeln der Höfe und auf der anderen Seite der Hecken hören wir das Rauschen der Bäche, die in die Milchtränke plätschern. Gegen Ende des Monats scheint das Gemüt, das durch die Ausdehnung der Tage, der Blätter und der Blumen ständig vorwärts getrieben wurde, in der Fülle der Natur zu ruhen. Alles ist gekleidet. (...) Wir sind von all der Schönheit, dem Sonnenschein und der Melodie umgeben, die sich in unseren Vorstellungen vom Sommer vermischen.«
Alles ist gekleidet. Wie zu einem festlichen Ball. Die Ausdehnung der Tage. Wir merken es, oder? All die schönen Abende, die uns der Mai schon bereitet. Die vielen Blüten, die dem Leben nach dem langen Winter und kalten Frühjahr Farbe geben. Wir könnten uns im Gedicht »Lampions in der Sommernacht« von Hermann Hesse verlieren - »Mondblau, Weingelb, Sammetrot.«
Den letzten Brief schloss ich mit einem Verweis auf den zweiten Satz der 3. Symphonie von Gustav Mahler »Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen.« Darüber habe ich seitdem nachgedacht und bin noch zu keinem wirklich erfolgversprechenden erzählerischem Ansatz gekommen. Dabei halten die Blumen auf einer Wiese nicht nur viele Farben, sondern auch viele Formen und die unterschiedlichsten Verhaltens- und Verwendungsweisen bereit. Es wird Zeit, das einmal aufzuschreiben und es wird hoffentlich ein ebenso schöner Text wie der über die »Gemütliche Wolke«.
Du merkst, der Kreis schließt sich und ich bin wieder beim Himmel und den Wolken angekommen. Zumeist ist der Himmel wolkenlos blau, ist das Gewölbe leer, keine weichen Wolkenkissen federn den nackten Anblick ab. Und ohne Wolken kein Regen, und Du weißt ja mit Deinem eigenen Garten, den Du schon immer hattest, ja selbst, wie wichtig Regen und Wasser ist.
Heute morgen hatte ich leider nur wenig Zeit, ein paar meiner Gedichtbände zu wälzen und mehr über den Regen in der Literatur zu erfahren. Interessant finde ich, dass Regen in der Dichtung eher so ein »Herbstding« zu sein scheint, verbunden mit gedrückter Stimmung, mit dem Ende des Sommers, mit der allmählichen Vergrauung der Welt in den Winter hinein. Über Goethes Bild der herrlich leuchtenden Natur schrieb Heinrich Arnold 1989 in das Goethe-Jahrbuch, Goethe spräche zu ihm »als wäre irgendwo Musik hinter den Wolken, aber keine geheimnisvolle, sondern eine Musik, die klingt, wie die Sonne scheint.«
Aber was, wenn die Sonne ewig scheint, aber kein Regen mehr fällt? Mir scheint, dem Regen fehlt es an Liebe und Anerkennung, an einer ihm zugewendeten Sprache, die die mit ihm verbundenen Erscheinungen wertschätzt. Schon im letzten Brief an Dich erwähnte ich diesen köstlichen Geruch, wenn die Erde nach langer Trockenheit wieder nass wird, das Geosmin, das für den Petrichor sorgt, zusammengesetzt aus ›Stein‹ und ›Blut der Götter‹.
Ist es nicht schön, wenn wir das zunächst leise Tröpfeln hören,, wie es bei einem starken Regen dann wallt und rauscht, plätschert und strömt? Wie das Wasser auf das heiße Blech prasselt wie Tropfen in eine heiße Pfanne? Wie es sich durch die Regenrinnen ergießt? Strudel bildet und lautstark durch die Fallrohre stürzt? Lauter Wassergeräusche, die uns auch an das Meer erinnern.
Aber der Regen kann auch sanft rieseln. Der Blick auf eine verregnete Landschaft kann unser Herz besänftigen und unsere Nerven beruhigen. Die Welt nach dem Regen kann völlig verändert ausschauen, vielleicht nicht so sehr, wie die Welt um Concord, wie sie Nathaniel Hawthorne beschrieb - eben erst neu geschaffen in ihrer stillen Schönheit, mit ihren breiten und friedvollen Wiesen - aber vielleicht ein wenig.
Es ist schön, dem Regenlied zu lauschen, das fand schon Hermann Hesse in »Regenzeit«, man sei eingelullt in den ewig gleichen Klang.
Ich vermisse den Regen, die Pflanzen tun es auch. Der Regen ist eingewoben in mein Verständnis der Natur, ich mag ihn nicht missen. Im Lied vom Himmelswebstuhl der Newa, einem Stamm der Pueblo-Indianer heißt es unter anderem:
Dann webt für uns ein Gewand aus Helligkeit:
Der Kettfaden sei das weiße Licht des Morgens,
Der Schußfaden sei das rote Licht des Abends,
Die Fransen seien der fallende Regen,
Die Webkante sei der ständige Regenbogen.
So webt für uns ein Gewand aus Helligkeit,
Auf daß wir geziemend wandeln, wo Vögel singen,
Auf daß wir geziemend wandeln, wo Gras grünt (...)
Achten wir die Erde, dass wir uns ihre Achtung verdienen.
Ich wünsche Dir schöne Tage und viel Segen und Regen!
Dein Thomas
P.S. Danke für Deine Zeit. Dies ist nun der zehnte Brief und es ist mir ein großes Vergnügen.
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Quellen:
Audeguy, Stéphane. _Der Herr der Wolken: Roman_. Übersetzt von Elsbeth Ranke. München: Schirmer Graf, 2006.
Hesse, Hermann : Stufen - Ausgewählte Gedichte / Gedichte 1895 bis 1941. Bibliothek Suhrkamp 342. Suhrkamp; Frankfurt am Main 1985.
Kirsten, Wulf: Gewitterregen. In: Reiners, Ludwig (Hrsg.) und von Schirnding, Albert (Hrsg.) : _Der ewige Brunnen: ein Hausbuch deutscher Dichtung_. Jubiläumsausgabe. München: C.H.Beck, 2005, Seite 387.
Schröder, Rudolf Alexander : An die Nelke. Ebd., Seite 349
Walpole, Horace; von Schlegel, August Wilhelm (Übers.) : Über die neuere Gartenkunst. In: Historische litterarische und unterhaltende Schriften von Horatio Walpole. Johann Friedrich Hartknoch, Leipzig 1800. Seite 384ff
Howitt, William : The Book of the Seasons; Or the Calendar of Nature. Henry Colburn and Richard Bentley, London 1831. Quelle: https://archive.org/details/bookofseasonsorc00howirich/, besucht am 23. Mai 2023, Seite 129.
Arnim, Bettina von; Reich, Willi (Hrsg.) : Lebensspiel. 2. Aufl., 10.-13. Tsd. Manesse-Bibliothek der Weltliteratur. Manesse-Verlag, Zürich 1985. Seite 15
Hahn, Karl-Heinz (Hrsg.) et. al. : Goethe Jahrbuch Band 106 - 1989; Vorstand der Goethe-Gesellschaft; Hermann Böblaus Nachfolger, Weimar 1989. Quelle: https://archive.org/details/goethejahrbuch0000unse_f2h0 (besucht am 27. Februar 2024)
Lampions in der Sommernacht
Siehe Stufen, Seite 144.
»Es dürfte kaum einen Ort geben, als den japanischen Abort, der von ruhigen Wänden und feiner Holzmaserung umgeben ist, der den Blick auf die Farben des blauen Himmels und des grünen Laubwerks freigibt. Und dazu gehört unabdingbar – ich sage es noch einmal – ein gewisses Halbdunkel, gründliche Sauberkeit und eine Stille, die selbst das Summen einer Mücke zum Ohr dringen lässt. Ich liebe es, auf einem solchen Örtchen dem sanften Rieseln des Regens zu lauschen.«
Aus: Tanizaki, Junʼichirō; Kloppenstein, Eduard (Übers.) : Lob des Schattens - Entwurf einer japanischen Ästhetik. Manesse Verlag, 5. Auflage, Zürich 1990. Seite 10
»Die Berge, die an diese Wiesen grenzen, sind breite Erdwölbungen oder lange und abgestufte Kämme, einige von ihnen mit dicht bewaldeten Gipfeln. Das weiße Dorf Concord, in einiger Entfernung zur Linken, scheint eingebettet zwischen bewaldeten Bergen. Das Grün der Landschaft ist lückenloser, als es sonst zu dieser Jahreszeit, wenn die herbstliche Färbung an Bäumen und Gras beträchtliche Fortschritte macht, für gewöhnlich der Fall ist. Gestern Abend, nach den starken Regenschauern der letzten zwei Tage, sah es aus wie Anfang Juni – oder eigentlich wie eine eben erst erschaffene Welt. Wäre meine Frau bei mir gewesen, hätte ich ein viel tieferes Empfinden für die Schönheit gehabt, denn dann hätte ich es durch ihre Seele gesehen.«
Peabody Hawthorne, Sophia; Hawthorne, Nathaniel, Alexander Pechmann (Übers.), und Peter Handke (Vorwort). Das Paradies der kleinen Dinge: ein gemeinsames Tagebuch. 2. Auflage. Salzburg Wien: Jung und Jung, 2014. Seite 33
Hesse, Eva, und Heinz Ickstadt, Hrsg. _Amerikanische Dichtung: von den Anfängen bis zur Gegenwart_. Englische und amerikanische Dichtung, Bd. 4. München: Beck, 2001. Seite 3
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