untitled-Newsletter 15
May 01, 2025 10:21 am
Hallo werte Leserschaft,
ich sitze am gleichen Schreibtisch, wie beim letzten untitled-Newsletter, und schaue auf den gleichen Bildschirm, aber der Raum und der Ausblick sind nun ein anderer. Und darüber freue ich mich sehr, auch wenn ich in den letzten Wochen abends meist erschöpft vor YouTube versackt bin … Ich habe aber Rede- bzw. Denk-Bedarf und so folgt der Newsletter wieder seiner gewohnten Form.
Fragmente
Der Staatsstreich in den USA, der den Staat in ein faschistisches System umbaut, schreitet weiter voran und treibt Schockwellen über den gesamten Globus. DOGE, die neue Institution, streicht unter dem Deckmantel der Effizienz weiter ziellos und blindlings Gelder für soziale Systeme und kritische Infrastruktur. Mitte des Monats traf es die Finanzierung für CVE (Common Vulnerabilities and Exposures), die internationale Datenbank für IT-Sicherheitslücken: Jede gemeldete Sicherheitslücke in Computer-Systemen – egal ob in Smartphones, Servern oder kleinsten Programmen, die überall verwendet werden – erhält eine CVE-Nummer und -Bewertung. CVE ist Industriestandard und die Datenbank der Referenzpunkt in der IT-Security. CVE kann somit als kritische Infrastruktur bezeichnet werden – und das eben nicht nur national in den USA, sondern international. Hier Gelder zu kürzen, ist ein Angriff auf kritische Infrastruktur – und das eben international. In letzter Sekunde hat DOGE dann doch wieder die Gelder für CVE bewilligt, aber die Verunsicherung bleibt und mit ihr kommen die Bestrebungen, sich vom zentralistischen, US-finanzierten System unabhängig zu machen.
Im neusten Stück von Last Week Tonight widmet sich John Oliver dem Gesundheitsministerium HHS, das erst von DOGE kaputt gespart wurde und nun von einem wissenschaftsfernen Minister weiter zerschlagen wird. Auch hier wird kritische Infrastruktur zertrümmert – national gefährdet es direkt Menschenleben! Und international wirft es etwa die Krebsforschung zurück, weil Forschungsgelder gestrichen werden.
Seit dem die neue Trump-Regierung sich abschottet und DOGE wahllos Gelder streicht, muss ich immer wieder an ein Essay denken, dass ich Anfang 2020 las: »America’s never-ending battle against flesh-eating worms«. Die USA kooperieren mit Panama und weiteren zentralamerikanischen Staaten, um fleischfressende Parasiten einzudämmen und aus den USA fernzuhalten, die im Süden der USA sonst Tiere und manchmal auch Menschen befallen. Die Eindämmung erfolgt, indem wöchentlich tausende sterilisierte Tiere aus Flugzeugen abgeworfen werden. Kritische Infrastruktur.
All’ diese Beispiele verdeutlichen, auf welch dünnen Beinen unsere komplexe, verwobene und hoch technisierte Welt steht. Es sind fragile Systeme, auf denen unsere moderne Welt aufbaut. Hier ohne Verstand mit der Kettensäge durch die Institutionen zu wüten ist – wortwörtlich – Wahnsinn. Und zeigt deutlich, was es zu schützen gilt.
~
Auf meinem Smartphone sind derzeit 85 Apps installiert, inklusive System-Apps wie dem Telefon, und ich muss sagen, ich bewundere da Volker Webers App-Minimalismus schon etwas. Und nach meinem Newsletter-Purge Ende letzten Jahres steht ein App-Aufräumen definitiv auch an.
Dabei befinde ich mich in einem persönlichem Dilemma, das ich nicht ganz auflösen kann: Durch meine Profession als UI/UX-Designer und Entwickler von digitalen Produkten bin ich auch neugierig auf digitale Lösungen und darauf, wie manche Apps funktionieren. Und so lungert manche App schon länger auf meinem Handy herum. Es ist für mich das gleiche Dilemma, einerseits minimalistisch leben zu wollen, mich aber andererseits auch von schönen Dingen nicht trennen zu können. Andererseits muss ich es auch nicht problematisieren, wenn es kein Problem und das Dilemma nur ein ideologisches ist.
Dennoch gibt es durch die allgemeine Fixierung auf Apps mittlerweile einige Dinge, die mich nerven und die eine App-Reduzierung erschweren: So verwende ich beispielsweise 4(!) Authentifizierungs-Apps, weil nicht jeder Service mit jeder Authenfizierungs-App kompatibel ist und Microsoft natürlich wieder sein eigenes Süppchen kochen möchte; und Google möchte natürlich am liebsten auch, dass ich noch deren App verwende. Nun zwingt mir meine Universität ihre App auf, indem sie den Studierendenausweis komplett digitalisiert – aber natürlich nur in ihrer App. Und meine Krankenkasse bietet für verschiedene Dienste verschiedene Apps an.
Was mich stört, ist der Zwang zur App – quasi: »There Is An App For That«, aber als Drohung. Mein Ticket, digitalisiert, ohne physischen Ersatz. Mein Studierendenausweis, digitalisiert und zur Not soll ich einen ausgedruckten Studiennachweis verwenden. Den On-demand-Bus, der gestrichene Buslinien ersetzt, kann ich nur über die eine App buchen.
Der Besitz eines Smartphones und die Fähigkeit Apps zu installieren und zu verwenden wird hier vorausgesetzt. Von der Jugend wird das, als sogenannte »Digital Natives«, vorausgesetzt, dabei verläuft ein digitaler Analphabetismus nicht nur zwischen Alt und Jung, sondern auch zwischen Schichten. Das Problem der Zugänglichkeit ist also ein großes und sollte bei der Gestaltung von Prozessen bedacht werden, besonders wenn die Zielgruppen breit und heterogen sind. Und User Experience (UX) ist nicht nur das, was zwischen zwei Screens auf einem Smartphone passiert.
Am anderen Ende des Spektrums werden Smartphones zu einer Erweiterung des Körpers und Gedächtnisses. Mit digitalisierten und virtualisierten Ausweisen, Tickets und Bank-Karten werden sie zu einem Teil der eigenen kritischen Infrastruktur. So wichtig und wertvoll wie das Portemonnaie oder Schlüssel – wenn nicht sogar wertvoller. Der Verlust des Smartphones macht dann auch wenigstens genauso viel Aufwand wie der Verlust eines Schlüssels oder des Portemonnaies – wenn nicht sogar noch mehr. Smartphone und Telefonnummer sind dabei kritische Tokens der Identität, zum Nachweis der Identität, und sollten deshalb auch als solche behandelt werden: mit Sorgfalt und Bedacht.
Aus beiden Perspektiven sollten Apps niemals der alleinige Zugang zu Diensten und Dienstleistungen sein und es sollte einfach zugängliche Alternativen geben. Redundanz ist nicht das Gegenteil von Effizienz und auch nicht immer schlecht, denn Redundanz kann Systeme resilient machen – und somit gute User Experience sein.
Randnotizen
- WIRED: Scammer Payback Answers Scam Questions: Perogi vom YouTube-Kanal Scammer Payback beantwortet für das Tech-Magazin WIRED Fragen und gibt wichtige Tipps, wie man nicht auf Scammer hereinfällt.
- taz: Aktivist*in Pink Büchsenschütz: Protest in Pantone 214 C: In der taz gibt es ein ganz wunderbares Portrait über Pink Büchsenschütz, der Aktivist*in gewordenen Grafikdesigner*in aus meiner Heimatstadt Wuppertal (siehe auch untitled-Newsletter No. 12 und No. 14).
- The Tim Traveller: Czechia's Incredible 1960s Supervillain-Lair Hotel (And Why Its Architect Got Banned): Das großartige Architektur – und auch großartiges Design – aus dem bewusstem Regelbruch entsteht, zeigt dieses Video-Essay vom Reise-YouTuber The Tim Traveller über das Hotel Ještěd im Space-Age-Design, das sowohl ein Sendeturm als auch ein Hotel ist, obwohl vom Auftraggeber damals eigentlich zwei getrennte Gebäude gefordert waren.
- DamiLee: The Problem With The Brutalist (As An Architect): Vom Film The Brutalist habe ich gemischte Reaktionen gehört, aber dieses Review von der Architektin Dami Lee bringt den Film definitiv wieder auf meine Watchlist.
- Dieter Rams Pointing At Things He Doesn’t Like
- Tom Ska: Who Killed The Laugh Track? Warum ist der Laugh Track, das Lachen aus der Dose, verschwunden? Und wo kam er eigentlich her? YouTuber und Comedian Thoms Ridgewell geht auf Spurensuche durch die Geschichte der TV-Comedy.
- Der dunkle Parabelritter: Der Meme-Krieg: Auf Social-Media herrscht ein Propaganda-Krieg und er wird mit Memes geführt, um unsere Aufmerksamkeit und unsere Sicht auf die Welt.
- FunkyFrogBait: Stop Falling For Rage Bait: Und, wo wir gerade auf Social-Media und bei Memes sind: Fallt nicht auf Rage-Bait hinein: Posts, die absichtlich so gestaltet sind, dass sie uns fassungslos und wütend machen. Wenn das passiert, nicht direkt Teilen oder Kommentieren, sondern: Stop, Watch, Scroll.
Musik zum Ausgang
Anfang des Monats stolperte ich über das Video von WING: WING kommt aus Korea und bietet mit Dopamine (YouTube, Spotify) eine beeindruckende Beatbox-Performance, die mich ein, zwei Abende in das Rabbit Hole von Beatbox-Wettkämpfen hat fallen lassen. Und deshalb landet der Song auch auf der Spotify-Playlist zum Newsletter. Wenn ihr nur den Song hören wollt, dann schaut euch aber lieber das Video an.
Nachwort
Diesen Monat bin ich, wie man an den Randnotizen merkt, wirklich viel auf YouTube versackt – das mein Freund Thomas auch mal als seinen persönlichen Fernsehsender bezeichnete –, besonders bei Video-Essays …
Beste Grüße