untitled-Newsletter 05
Jul 01, 2024 2:01 pm
Hallo werte Leserschaft,
und willkommen zur fünften Ausgabe des untitled-Newsletters. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber für mich war der Juni ein etwas durchwachsener Monat und im Rückblick fühle ich mich genauso knapp daneben, wie die deutschen Übersetzungen auf der Patreon-Website: »Dein wildester kreative Realität«.
Bevor wir uns gleich im Kaleidoskop der Dinge verlieren, eine Bitte an euch: Schickt mir eure Lieblingssongs und -Playlist. Seitdem ich seit Anfang des Jahres aus Gründen nun regelmäßig Musik über Spotify höre und nicht mehr nur meine eigene Musik-Sammlung, habe ich das Gefühl zwischen dem Algorithmus, der mir zu viel »same, same but different« liefert, und der schier endlosen Auswahl an Musik gefangen zu sein. Deshalb: Schickt mir eure Favoriten. Jedes Gerne und jeder Style. Ich brauche frischen Wind.
Fragmente
Im letzten untitled-Newsletter schrieb ich schon von meinem Entschluss Evernote als Software für meine digitalen Notizen bzw. meinen Jardin Intérieur (aka. Digital Garden, aka. Mind Garden) zu verlassen und zu Bear zu wechseln. Und nach einem weiteren Monat muss ich sagen: Ich fühle mich sehr wohl und habe wieder Freude daran, meinen Jardin Intérieur zu pflegen und zu erweitern – etwas, was mir mit Evernote leider abhanden gekommen ist. Im Laufe des Monats ist mein Garten in Bear von 900 auf über 1.800 Notizen gewachsen; und Evernote von fast 10.000 auf knapp 9.200 geschrumpft.
Derzeit arbeite ich an einem Blog-Post, indem ich mein neues System in Bear festhalte, da die Unterschiede zu Evernote schon enorm sind und es dadurch eine andere Struktur erfordert.
Ein kleiner Eindruck von Bear.
Da Bear auch komplett auf Markdown für die Textauszeichnung setzt und Notizen in gleicher Weise verlinkt wie Obsidian, habe ich auch kurz einen Abstecher dorthin gemacht, musste aber nach kurzer Zeit wieder feststellen, was mich stört: Obsidian fühlt sich zu technisch für mich an. Bear liegt für mich genau im Sweet-Spot zwischen Funktionalität und Abstraktion, dass ich damit gut konzentriert arbeiten kann; bei Obsidian bin ich immer versucht, mich in die Technik und Formalisierung zu stürzen, die mich von den eigentlichen Inhalten ablenkt. Aber dank der Kompatibilität der Notizen kann ich nach einem Export aus Bear und einem Import in Obisidian von Zeit zu Zeit mal einen Blick auf den tollen Graphen von Obsidian werfen, der die Verknüpfungen meiner Notizen untereinander visualisiert und der Bear leider noch fehlt.
Meine Notizen aus Bear in der Visualisierung von Obsidian. Cluster sind nach Themen eingefärbt: Rot: Architektur; Grün: Philosophie; Türkis: Design.
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»The Largest Unsolved Problem In VR« vom YouTuber ThrillSeaker ist das mit Abstand beste Video über VR, das ich bisher gesehen habe: Es legt die Finger genau in die Wunden, die ich in den letzten Jahren, in den – zugegeben – spärlichen Stunden, mit VR-Brillen ebenfalls verspürt habe. Dazu gibt es einen Crash-Kurs in Industriedesign bzw. User-Experience-Design (aka. UX-Design), der nochmals verdeutlicht, wie stark am Anfang die Technologie noch steht und warum Apple mit ihrer Apple Vision Pro auch in diesem Marktsegment tatsächlich wieder eine Innovation schaffen könnte.
Auch wenn in diesem Video einige Lösungswege für die fundamentalen Probleme mit VR aufgezeigt werden, so bleiben für mich einige Fragen weiterhin offen: Die 2D-Darstellung von Texten, gerade in linearer Form, hat einige Vorteile gegenüber dem Dreidimensionalen – wofür dann den Umweg über den 3D-Raum, um am Ende bei vielem wieder bei 2D-Text zu laden?
Durch Affordanz und Erfahrung haben wir im physischen Raum ein ziemlich gutes mentales Modell davon, wie sich Dinge verhalten und was wir mit bestimmten Dingen tun können; in VR sind potentiell endlose oder absurde Interaktionen möglich – wie können Objekte dann in ihrer Gänze und ihren Möglichkeiten vollständig erfasst werden; oder umgekehrt: Wie können Dinge kreativ und neuartig eingesetzt werden, die vorher in der Programmierung nicht vorgesehen waren? ThrillSeaker legt in seinem idealisiertem Modell eines VR-Systems die Hand- bzw. Gestik-Steuerung als ein fundamentales Prinzip zu Grunde – wie kann VR zugänglich gestaltet werden, gerade für Sehbehinderte und motorisch eingeschränkte Personen (Stichwort: Accessibility)?
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In einem Vortrag von 2017 spricht Architekt Stefan Forster über den Zwischenraum zwischen dem öffentlichem und dem privatem Raum: »Architektur für den Lebensraum Stadt«. Es geht um das sensible Zusammenspiel von Offenheit und Geschlossenheit, über die Übergangsräumen zwischen innen und außen, dem öffentlichem und privatem Raum und den Qualitäten und Details von Fassaden und Eingangsbereichen, die nicht nur ästhetisch im Sinne von »schön« sind, sondern auch im ursprünglichen Wortsinne die Wahrnehmung prägen und somit auch die Haltung und das Verhalten zu einem Raum – wie im, bereits vor einiger Zeit, schon mal zitiertem, Motto der Bundesstiftung Baukultur: »Räume prägen Menschen / Menschen prägen Räume«.
Das sind auch Fragen, die mich im digitalen Raum beschäftigen – allerdings auf das User-Interface-Design bzw. Screendesign übertragen: Im UI/UX-Design wie in der Architektur gibt es Paradigmen oder Patterns, die funktionieren – was lässt sich voneinander lernen? Wenn Facebook, Instagram, TikTok usw. die Millionen-Städte des digitalen Raumes sind, dann sind es eher Shared-Private-Spaces, vergleichbar mit Einkaufszentren – wie sehen dann öffentliche digitale Räume aus? Gibt es sie überhaupt schon? Falls nein: Wie müssten sie aussehen? – Wie sieht Offenheit und Geschlossenheit im digitalen Raum aus? Welche Zwischenräume gibt es? Und wie werden sie für welche Seite oder welchen Zweck gestaltet?
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Künstliche Intelligenz ist das Hype-Thema der letzten beiden Jahre und ich merke, so sehr mich das Thema fast schon nervt, ich komme nicht darum herum, da diese Technologie derart an den Grundfesten unserer medialen Öffentlichkeit, unserer Wahrnehmung von Wahrheit und unserer Ethik rüttelt. Und weil diese Technologie derart brachial in (Software-)Produkte eingepresst wird, dass man kaum um sie herum kann. Die Frage, ob wir KI überhaupt in unseren Produkten wollen oder auch welche Folgen es geben kann und wie mit diesen umgegangen werden kann – diese Fragen werden in den Tech-Firmen zu wenig gestellt oder haben zu wenig gehör. Entsprechend groß fällt teils der Gegenwind aus:
Adobe informierte Anfang des Monats über aktualisierte Nutzungsbedingungen, die die Interpretation zu ließ, dass Adobe alle kreativen Arbeiten aus Photoshop und Co. nutzen könnte, um ihre Generative-AI-Systeme zu trainieren und erhielt einen ziemlichen Shitstorm, der nun dazu führte, dass sie in ihren Nutzungsbedingungen nun klarstellen mussten, dass sie das nicht tun werden.
Meta verschickte Ende letztens Monats/Anfang diesen Monats an alle Nutzer:innen von Facebook und Instagram in Europa eine E-Mail zu aktualisierten Datenschutzbestimmungen, in denen Meta eröffnete, dass man nun alle eingestellten Inhalte als Trainingsdaten für ihre KI-Systeme nutzt, wenn man nicht individuell widerspricht. Das brachte die Datenschutz- und Bürgerrechts-Organisation noyb auf den Plan, die bei Datenschutzbehörden in mehreren Ländern Beschwerde einlegte, welche nun dazu führten, dass Meta ihr KI-Projekt in Europa (vorerst) auf Eis legt . Aber im Gegensatz zum Aufschrei über die Pläne von Meta ist die Meldung über den Rückzug der Pläne fast still an mir vorbei gegangen …
Last but not least: In »Design As Thought: AI And The Future Of Design« sprechen Orlando Budelacci, Professor an der Hochschule Luzern und Interaction-Designer Oliver Reichenstein über Design, Philosophie und KI. In dem Gespräch fallen einige spannende Gedanken, u. a.:
But the danger with AI is that it allows us to perform actions that previously required thought. AI makes actions that require human involvement easy for us; actions such as hiring and firing people, driving cars, and writing books shouldn’t happen without mental effort and emotional involvement.
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In ebenjenem Gespräch betont Oliver Reichenstein wie wichtig er die Fähigkeit des Schreibens für sich und für Gestalter:innen generell sieht:
As the teachers, supervisors, colleagues, and friends of designers, it’s our task to make that process [of writing] less intimidating. The fear of writing is virtually inculcated in us at school. We need to light paths to language for children, we need to awaken the joy of words and writing in them. We need to accept that young people can express themselves freely, willingly, and gladly not just visually but also verbally.
Das resonierte perfekt mit einem anderen Artikel, den ich wiederfand: »Just Put Stuff Out There«: Übe zu schreiben, über- bzw. zerdenke nicht das Schreiben oder deinen Schreibstil, sondern Schreibe und Veröffentliche. – Und das ist genau das, was ich mit diesem Newsletter versuche.
Bonus-Level
Auf meiner Liste für diesen Newsletter gibt es noch viel mehr Links, die ich gerne teilen möchte, um den Newsletter aber nicht noch mehr in die Länge zu ziehen, hier ein Link-Sammlung, ohne viel Kontext:
- Nico Semsrott hielt mit seinem Bruder Arne Semsrott auf der TINCON einen wunderbaren Vortrag über Engagement, Transparenz, Wissen und Macht.
- Auf der großen Schwester-Konferenz re:publica hielt Katharina Nocun einen spannenden Vortrag über die Methoden der rechtsextremen Brandstifter – mit Ansätzen für Gegenmaßnahmen.
- Wo wir dabei sind: Campact hat eine Unterschriften-Aktion laufen, die die konservative Fraktion des Europaparlaments, zu denen auch die CDU/CSU gehören, dazu verpflichten soll nicht mit der vorgeblich »gemäßigten« rechtsextremen Fraktion zusammenzuarbeiten, zu der bis vor kurzem noch die AfD gehörte.
- Wie viele Länder gibt es auf der Welt? So, ca. 200? Die Map Men machen einen kurzweiligen Deepdive in das überraschend komplexe Thema.
- Manganknollen sind Metallklumpen mit seltenen Erden und Metallen, die in bestimmten Regionen der Tiefsee herumliegen und die als Rohstoff abgebaut werden und damit traditionellen Landbergbau ersetzten sollen. Last Week Tonight behandelt das Thema Deep-Sea Mining und erklärt, welche Interessenskonflikte es bei der Vergabe von Konzessionen gibt und welche möglichen Umweltfolgen es geben kann. Der Tagesschau-Podcast 11KM griff das Thema ebenfalls auf – und, trotz der gleichen Länge und der klamaukigen Witze von Last Week Tonight fühle ich mich tatsächlich davon umfassender Informiert als vom Podcast der Tagesschau.
- Im letzten Newsletter war Joost Kleins »Europapa« mein Song des Monats. Vom TikToker James Leonidas gibt es nun eine kleine Parodie: Corporate America.
Musik zum Ausgang
Wie eingangs geschrieben, habe ich das Gefühl, durch Spotify in einem merkwürdigen Limbus aus algorithmischer Gleichförmigkeit und gefühlter Grenzenlosigkeit der Auswahl gefangen zu sein. Deshalb habe ich dieses mal keinen richtigen Song, der mich in diesem Monat begleitet hat, aber seit ein paar Tagen schwirrt mir die Hook von Evil Nines »You Are Not Through« (Spotify) wie ein Ohrwurm durch den Kopf und deshalb landet es auf der Spotify-Playlist.
Und nochmals die Bitte: Schickt Musik und holt mich aus diesem Limbus!
Nachwort
Ach, wie schnell der Newsletter doch wieder lang wurde, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass der Monat durchwachsen und ich doch keine richtigen Themen hatte. Und dennoch habe ich für mich einige neue Ideen entwickelt und eine Vorstellung davon, wie ich meinen thematischen Schwerpunkt schärfen kann, aber dazu ein anders Mal mehr, denn es sieht so aus, als ob es sich am Horizont aufklärt.
Beste Grüße