Briefe an Irene : Dezember 2024 Weihnachtsausgabe

Dec 09, 2024 12:42 pm

Wuppertal, Sonntag, 9. Dezember 2024


Liebe Irene,


es ist Sonntagabend und endlich finde ich Zeit Dir aus dem abendlichen Wuppertal zu schreiben. Traditionell spielen die Blechbläser in unserem gemütlichen Stadtteil Cronenberg an den Adventsabenden vom Kirchturm auf den kleinen Platz hinter unserem Haus herunter, und so klingt an diesem Abend die weihnachtliche Musik sanft zu mir herüber. Der 2. Advent ist nahezu vorbei, und ich frage mich, was von diesem Sonntag bleibt, der so schnell vorbei gegangen ist. Wo bleibt die Zeit, frage ich mich mit zunehmendem Alter häufiger. Ein Allgemeinplatz, das ist mir bewusst. Wir hatten doch nicht mehr Zeit früher, oder? Die Tage sind annähernd gleich lang geblieben. Wie lang kamen sie mir immer vor, wenn ich als Kind bei Dir zu Besuch war.


Wie geht es Dir? Hast Du die Adventstage schön verbracht, Dir für etwas spezielles Zeit genommen? Ich weiß wie gerne Du besonders in der Weihnachtszeit immer und gerne für alle dagewesen bist. Außerdem hast Du in der Vorweihnachtszeit so wie Deine Mutter jede Menge Weihnachtsplätzchen gebacken. An manche kann ich mich sehr gut erinnern und backe sie mittlerweile selbst: Haferflockenplätzchen, pur, mit Rosinen oder Schokolade, Vanillekipferl wie sie traditionell gemacht werden, mit echter Vanille, Mandeln und natürlich stachen wir sie bei Dir nicht aus — nein, jedes einzelne rollten wir sorgfältig von Hand zu einem feinen Doppelkegel aus und legten es dann zu einem Glück bringenden Hufeisen zusammen. Sie sahen natürlich trotzdem nahezu alle gleich aus, mit winzigen Variationen. Und darauf kommt es an. Sonst könnte man auch Fabrikkekse essen. Es sind die kleinen Variationen, die dem ganzen die Schönheit geben, die uns in Erinnerung bleibt.


Die kopflosen Nikoläuse


Und es gab Spekulatius, die aus einer Holzmodel geschlagen wurden. Dazu kam auf den alten Küchentisch, eine dicke, doppelt gefaltete Decke, auf diese dann ein festes, sauberes und natürlich gebügeltes Leintuch. Ich glaube das Leintuch gab es in Deinem Haus nur zu diesem Zweck. Hinter dem Küchentisch stand ein gemütliches Küchensofa, bei dem die linke Armlehne fehlte, hier konnte man es sich vor und nach dem Essen gemütlich machen. Der Teig, mit seinen leckeren weihnachtlichen Gewürzen, stark nach Zimt, Nelken und Kardamom riechend, kam in Stücken aus dem Kühlschrank auf den Tisch, wo er idealerweise den halben Tag geruht hatte. Die Model pinselten wir mit Mehl, dieses dann sorgfältig ausgeklopft, so dass nur ein feiner Hauch die zarten Schnitzereien bedeckte, dann presste man mit festen Handballen oder einem Nudelholz den Teig in die Model. Schließlich schnitt man mit einem scharfen Messer der Überstand abgeschnitten. Scharfe Messer hattet ihr immer viele, vor diesen hatte ich als Kind großes Respekt, sie waren dünn geschliffen vom halbhundertjährigen Gebrauch. Die Model drehte man nun um und mit einem festen Schlag auf den Tisch, die klopfte man die Spekulatiusrohlinge aus der Model. Dazu lag ja die dicke weiche Decke darunter. An die traditionellen und geschnitzten Formen kann ich mich noch gut erinnern, Huhn, Wolf, Luchs und Hase waren dabei, aber auch ein Blumenbouquet und zwei Nikoläuse. Mit diesen hatte es eine besondere Bewandtnis. Der Schnitzer hatte die Hälse zu wenig tief graviert und in der Regel war es so, dass die Nikoläuse beim Ausklopfen ihre Köpfe verloren. So lagen sie dann, wie zerbrochene Ausgrabungen, auf den sternförmigen Weihnachtstellern an Heiligabend, neben den anderen Leckereien. Die kopflosen Nikoläuse. Eine schöne Gelegenheit über dieses Missgeschick zu lachen. Natürlich buken wir auch Berliner Brot und Tiroler Leckerli, eine Art Lebkuchen, zu dem bestimmt jedes einzelne Haus in Deinem Dorf im Sauerland ein eigenes Rezept hatte. (Rezept siehe unten) Beim gemeinsamen Backen gab es immer Tee oder Kaffee dazu, man saß zu mehreren zusammen und hatte endlich Zeit zum Reden. Zeit, die uns heute nicht zu bleiben scheint. Bei der ganzen Teignascherei freute man sich abends auf etwas Herzhaftes und oft gab es Gemüsesuppe mit Pfannkucheneinlage, der Schwabe würde Flädli sagen, oder was meinst Du?


Es wäre so wichtig, dass wir uns für die Menschen, die wir lieben und die wir in unser Herz geschlossen haben mehr Zeit nehmen. Du kennst mich, das ist auch eigentlich immer meine Devise: Das Menschliche geht vor, der Mensch geht vor. Vor dem Geschäft, vor eigentlich allem anderen. Bettina von Arnim schrieb einmal, dass die Zeit sich gerne an uns vorbeischleicht, wie heißt es in Lebensspiel (Manesse Verlag): »Am Ende war es nur Betrug, den die Zeit gespielt hat, um unbenützt vorbeischleichen zu können; denn die Zeit ist faul und lässt sich nicht gern benützen.« 


Ja, es ist immer wieder eine gezielte Anstrengung, aber wir dürfen der Zeit diesen Betrug nicht erlauben. Wir müssen sie uns nehmen, die Zeit, sie gibt sich uns nicht selbst hin, eher schleicht sie sich an uns vorbei. Gerade die Menschen um uns herum verdienen unsere Zeit und unsere Freundschaft. Zu Freundschaft fällt mir Tröstlichkeit ein, ein ausgestorbener Begriff, und das nach nur sechsundsechzig Jahren. Über diesen Begriff habe ich am Montag mit einer lieben Freundin gesprochen. Wir haben uns die Zeit genommen und die Zeit hat uns etwas gegeben. Vor knapp einem Jahr habe ich mir in einem Kölner Antiquariat ein besonderes Buch gekauft, es war der Roman ›Die Verlobten‹ von Alessandro Manzoni aus dem Manesse-Verlag. Zum Zeitpunkt des Erwerbs sagten mir Autor und Titel nichts. Goethe schrieb über den Roman, der besser mit ›Die Brautleute‹ übersetzt ist, »Wir gestehen Herrn Manzoni wahres poetisches Talent mit Vergnügen zu«. So viel Talent, dass man es in Manzonis zweiter Heimat Frankreich über fünfzigmal übersetzte, im deutschsprachigen Raum wohl an die fünfzehnmal. Im Sommer habe ich endlich angefangen das Buch zu lesen, kein leichter Stoff, auch wohl nicht leicht zu übersetzen. Das Buch, jetzt fertig gelesen, sieht im Moment aus, wie ein gespickter Rehrücken, ich meine die Schokoladenvariante. So viele Notizen und Anmerkungen zu den Zitaten machte ich mir, so viele kleine Post-It-Zettel klebte ich hinein. Alles Zitate, die noch in meinen Zettelkasten wandern werden. Und irgendwann, ich weiß nicht mehr wie, las ich eine Kritik über eine neue Übersetzung, es war jene von Burkhart Kroeber. Die Rezensionen lobten, wie wortgetreu die Übersetzung sei. Und das war wohl der Moment wo ich beschloss es gerne wissen zu wollen, wie es zwischen diesen beiden Übersetzungen steht, zwischen der von Kroeber und der von Lernet-Holenia. Und wo stehe ich nach drei Monaten vergleichender Lesung und Notation? Jetzt habe ich acht verschiedene Ausgaben zu Hause, drei stehen mir digital zur Verfügung. 


Was habe ich davon, fragst Du Dich bestimmt, womit schleicht Dein Neffe wieder am Diebstahl der Zeit vorbei?


Ein besseres Verständnis des Begriffs der ›rechten Tröstlichkeit der Freundschaft‹ zum Beispiel. Alexander Lernet-Holenia übersetzte das italienische »Una delle più gran consolazioni di questa vita è l'amicizia« mit ›eine rechte Tröstlichkeit in diesem Leben ist die Freundschaft‹, während es Kroeber mit ›Eine der größten Tröstungen dieses Lebens ist die Freundschaft‹, während Ernst Wiegand Junker es, wahrscheinlich um die 1960 herum so übersetzte: ›Zu den schönsten Wohltaten dieses Lebens gehört die Freundschaft‹ und gehen wir noch ein wenig weiter in der Zeit zurück lese ich fast nüchtern sachlich und vereinfacht in der von Bülow-Übersetzung ›Freundschaft ist ein starker Trost in diesem Leben‹. Starker Trost, Wohltat, Tröstung oder Tröstlichkeit, fragst Du Dich jetzt bestimmt, was willst Du mir damit sagen. Mir gefällt die Tröstlichkeit weil das Wort so eine starke Nähe zu Angelegenheit hat. ›Es ist mir eine Angelegenheit‹, niemand, der allzu jung ist, dürfte das wohl noch im Alltagsgebrauch so sagen, aber Dir wird die Redensart ein Begriff sein. ›Es ist mir eine Angelegenheit‹, dann kümmere ich mich darum, dann befasse ich mich damit, dann setze ich mich damit auseinander, ich mache es zu meiner Angelegenheit, etwas, das in meinem täglichen Leben eine Rolle spielt. Dabei ist es egal ob aus einer Freundschaft mal helles oder dunkles Licht zu mir herüberscheint, für diese Angelegenheit bin ich da und sie beruht auf Gegenseitigkeit. Freundschaft, das las ich einmal in einem kleinen Band, ist immer auch ein Ausgleich der Interessen. Ohne diesen Ausgleich gibt es eine Schieflage. Grimm nennt sogar den Minister der auswärtigen Angelegenheiten, schreibt auch, wir machen uns etwas zur Angelegenheit, etwas Wichtiges, Anliegendes. Und anliegend, meint das nicht zu gleich auch nah, anlehnend. Halt gebend. Wie ein starker Baum. Bäume, diese elastischen Wesen, die ihre Kraft immer neu verteilen, ganz danach, wo gerade Gleichgewicht gebraucht wird? Die zarte Weide, die uns mit ihren schlanken Trieben umfasst, die knorrige Eiche, der wir uns mit all unserer Energie in die Arme werfen können. Freundschaft ist eine rechte Tröstlichkeit, übersetzte Lernet-Holenia, und er hat nicht ›wahre‹ oder ›echte‹, oder ›starke‹ davor geschrieben. Er schrieb ›rechte‹ — Freundschaft sei eine rechte Tröstlichkeit. Im Sinne von ich bin ›recht‹ vergnügt, und damit meinend, ›ganz und gar‹. Und nach Grimm drückt der Begriff ›recht‹, etwas sei geregelt.


Und Regeln braucht die Freundschaft, wie die Regeln der Liebe, der Verlässlichkeit und des Vertrauens. Dinge, auf denen wir etwas bauen können, so wie ein Baumhaus in einen starken Baum.


Hemingway schrieb in ›Über den Fluss und in die Wälder‹: 


»Du bist lieb, wenn du so freundlich bist.« »Glaubst Du, daß das Wort 'freundlich' von Freund abgeleitet ist?« »Ich weiß nicht«, sagte das Mädchen, und sie ließ ihre Finger leicht über die narbige Hand gleiten. »Aber ich liebe Dich, wenn du freundlich bist.«


Damit sei genug geschrieben für heute. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen eine schöne Adventszeit, und dass sich die Idee von Gemütlichkeit, Zeit haben, Freundschaft, Heiterkeit, Liebe und Menschlichkeit über das schöne Weihnachtsfest weit ins neue Jahr trage. Es ist an uns, so schrieb es Christian Morgenstern, unsere ganze Zeit umzugestalten, ihr das Gepräge unseres Willens aufzudrücken und sie mit Schönheit zu erfüllen!


Frohe Weihnachten und bleib gesund!


Dein Thomas



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Irenes Rezept Tiroler Leckerli


- 3 Eier

- 150 gr Zucker

- 150 gr Mehl

- Prise Zimt

- 1 Teelöffel Backpulver

- 50 gr Zitronat

- 100 gr gehackte Nüsse

- 100 gr gehackte Mandeln

- 100 gr Rosinen oder tote Weintrauben

- 100 gr Zartbitter-Schokolade

- Oblaten 50 mm


Eier und Zucker werden schaumig geschlagen. Ich mache das von Hand und schlage lange. Der Zucker löst sich besser auf, meine Oberarme erfahren Muskelzuwachs, es macht nicht so einen Lärm und mit jedem Schlag wandert etwas mehr von meiner Liebe in den Teig. Mehl, Zimt und Backpulver in den Teig sieben. Was war sieben mal sieben? So kommt die Kindheit wieder. Sieben ist ja eigentlich nicht mehr nötig, ich mache es einfach, weil es in der Schüssel so schön nach Schneeland aussieht. Alles ein wenig untereinander heben, nicht rühren. Die Luft soll im Teig bleiben, wir haben sie ja gerade erst hineingeschlagen. Die anderen Zutaten so fein hacken, wie man es mag. Feiner gehackt werden sie mehr wie Lebkuchen, leckerlicher werden sie, wenn die Zutaten wie bei einem guten Salat noch herauszuschmecken sind. Aber nicht so grob! Wer will, kann die Mandeln schälen, dann wird alles ein wenig feiner. Außerdem kann man Spaß daran haben, die Mandeln aus ihrer Mandelhaut fitschen zu lassen. Mit vielen Kindern sucht man in der ganzen Küche. Alle Zutaten unterheben. Nicht die Kinder! Dann relativ flach auf die Oblaten streichen. Die gehören zwingend dazu, ob man sie mag oder nicht, weil sie beim Abbeißen so schön an der Zunge kleben. Wer größere Oblaten nimmt, backt keine Kekse, sondern Happen! ;-) 

Backen bei Ober/Unterhitze, bei Heißluft werden sie trocken und verlieren ihren appetitlichen Knatscheffekt und den weichen Biss. Backen bis sie fertig sind, einfach ab und zu eins probieren!


Gut verschlossen den Versuch wagen, sie bis Weihnachten aufzuheben!


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Quellen: 


»Am Ende war es nur Betrug, den die Zeit gespielt hat, um unbenützt vorbeischleichen zu können; denn die Zeit ist faul und läßt sich nicht gern benützen.«

Arnim, Bettina von; Reich, Willi (Hrsg.) : Lebensspiel. 2. Aufl., 10.-13. Tsd. Manesse-Bibliothek der Weltliteratur. Manesse-Verlag, Zürich 1985. Seite 257


»Wir gestehen Herrn Manzoni wahres poetisches Talent mit Vergnügen zu, Stoff und Bezüge sind uns bekannt; aber wie er sie wieder aufnimmt und behandelt, erscheint uns neu und individuell.«

Goethe, Johann Wolfgang : Klassiker und Romantiker in Italien - sich heftig bekämpfend. In: Werke Vollständige Ausgabe letzter Hand. Siebenunddreißigster Band, Seite 249ff. J.B.Cotta'sche Buchhandlung. Stuttgart und Tübingen 1830. (https://archive.org/details/bub_gb_j6gTAAAAQAAJ/page/244/mode/2up, besucht am 29. November 2024)


»Eine rechte Tröstlichkeit in diesem Leben ist die Freundschaft; und eine der Tröstungen der Freundschaft ist es, daß man jemanden hat, dem man sich anvertrauen kann. Doch sind die Freunde nicht Paare wie die Gatten; ihrer jeder hat mehrere weitere Freunde, so daß sie allesamt eine Kette bilden, deren Anfang und Ende niemand kennt. Entschließt sich also ein Freund, sein Geheimnis im Busen eines andern zu bergen, so vermittelt er diesem gleichzeitig den Wunsch, sich auch seinerseits die gleiche Erleichterung zu verschaffen.«

Manzoni, Alessandro; Lernet-Holenia, Alexander (Übers.) : Die Verlobten; 6. Auflage. Mit einem Nachwort von Giuseppe Zoppi. Manesse-Bibliothek der Weltliteratur, Manesse-Verlag, Zürich 1988. Übersetzung und erste Auflage stammt von 1958. Seite 231


»Du bist lieb, wenn du so freundlich bist.« »Glaubst Du, daß das Wort 'freundlich' von Freund abgeleitet ist?« »Ich weiß nicht«, sagte das Mädchen, und sie ließ ihre Finger leicht über die narbige Hand gleiten. »Aber ich liebe Dich, wenn du freundlich bist.«

Hemingway, Ernest : Über den Fluß und in die Wälder: Roman. 36. Auflage. Rororo 10458. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1985. 191-195 Tausend. Seite 64


»Seine ganze Zeit umgestalten, ihr das Gepräge seines Willens aufdrücken, sie mit seiner Schönheit erfüllen, sie überwältigen und unterwerfen mit seinem Geiste.«

Morgenstern, Christian : Stufen - Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuchnotizen; R. Piper & Co, München 1928. Quelle: https://archive.org/details/stufeneineentwic0000morg/ (besucht im Mai 2023)



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