Briefe an Irene : September 2024
Sep 09, 2024 12:02 pm
Liebe Irene,
trotz der schon fast unerträglichen und sehr drückenden Hitze am letzten Augustwochenende, die dem Hochsommer noch einmal alle Ehre machte, freue ich mich schon die ganze Woche darauf, Dir zu schreiben. Die Luft im oberen Garten durchzieht ein würziger Geruch nach am Boden faulenden Zwetschgen, und unten reifen unter dem harten Gesicht der Mittagssonne die Tomaten in den Sommersalat. Es ist die Zeit des Zwetschgenkuchens, der für mich nur mit geviertelten Zwetschgen so schmeckt, wie der Sommer bei Dir im Sauerland schmeckte. Wenn es so heiß war, wie am letzten Wochenende, konnte man noch die letzten Spuren des geernteten Heus riechen, fuhr man zwischen den Feldern, sah man zuweilen noch im August Bauern, die die letzte Fuhre Grummet einbrachten. Aber da waren die Zeiten, als man Heu und Stroh vom Wagen in der Tenne mit einer riesigen Forke nach oben auf den Heuboden zog, schon lange vorbei.
Wie geht es Dir? Wie gut kommst Du mit der Hitze zurecht? Wie schön, dass Dein Haus immer ein paar Bäume umstanden, unter denen man im Sommer im Schatten sitzen konnte. So lange ich denken kann, hattest Du einen Garten, in dem auch immer etwas angebaut wurde. Und diesem Garten hast Du Dich stets mit großer Liebe gewidmet. Zunächst gemeinsam mit Deiner Mutter Maria, meiner Oma. In meiner Jugend hattet Ihr auch noch Gemüse vor dem Haus, und den Garten beim Friedhof, in dem ich einmal in eine Harke getreten bin. Als kleines Kind zählte die Mitfahrt mit dem Bollerwagen zum Garten zu den großen Momenten meiner Zeit bei Dir. Diesen gepachteten Garten habt Ihr dann aufgegeben und einen auf dem Höfchen angelegt. Höfchen. Als Kind wusste ich mit diesem Begriff wenig anzufangen, später wusste ich dann, dass Omas Familie mal einen großen Hof in Listernohl hatte, auf der Klinke, der dann im Biggesee verschwand. Aus dem großen Hof wurde dann ein Höfchen, und aus der sorgfältig im Frühjahr umgegrabenen Scholle ragten stolz und für jeden sichtbar die Bohnenstangen in das sommerlich blaue Himmelszelt empor. Es war ein schöner Garten, er hatte genau die richtige Größe.
Dazu las ich schon vor längerer Zeit etwas sehr Schönes. Es stand in einer der vielen Kurzgeschichten, die der Manesse Verlag in seiner Reihe der Weltliteratur seit dem zweiten Weltkrieg herausgegeben hat, in diesem Fall in einer Sammlung von Kurzgeschichten englischer Erzähler. Die Geschichte heißt in diesem Fall »General Ople und Lady Camper« und stammt von George Meredith, einem exzellenten und kritischen Beobachter der viktorianischen Gesellschaft. Und in dieser Geschichte, die von besagtem General und der Lady erzählt, umkreisen sich die beiden Personen wie zwei elektrisch aufgeladene Kugeln, die sich manchmal anziehen und dann wieder abstoßen. Meredith, sieben Mal für den Nobelpreis für Literatur nominiert, gelingt schon zu Beginn etwas Wunderschönes über General Oples Garten zu schreiben. Ich finde übrigens, für dieses Zitat hätte er den noblen Preis verdient gehabt. Hier heißt es, nach dem sich der General ein schönes Anwesen erworben hat, auf Seite 7:
»Der Umfang des Anwesens betrug einen halben Morgen, gerade die richtige Größe für das, was General Ople mit seiner Liebe umfassen konnte.«
Wenn man aus dieser schönen Beschreibung eine Regel formulieren könnte, wie würde Sie dann Deiner Meinung nach vielleicht lauten: »Ein Garten sollte so groß sein, dass man ihn mit seiner Liebe umfassen kann.« Findest Du nicht auch, dass das eine über den physischen Garten hinausgehende Tragweite hat, die sich auf viele Aspekte unseres Leben übertragen lassen könnte?
Aber bleiben wir zunächst doch beim Garten, und wie schön es ist, in ihm zu arbeiten und in ihm und mit ihm zu leben. Emerson, von dem ich Dir ja schon oft geschrieben habe, sagte zum Garten, »(...) nichts scheint so viel wert zu sein im Leben, wie einen Garten anzulegen.« Wie schön, dass wir dazu hier in Cronenberg ebenfalls in der Lage waren, und wir sind dankbar, dass es uns mit viel Glück und um so mehr Liebe gelungen ist, aus einem Boden voller Altlasten, Blei und Arsen, einen fast englischen Ort zu erschaffen, wie ihn Meredith an anderer Stelle so schön beschreibt: »ein Fetzen Gras wäre bei größeren Dimensionen ein Rasen zu nennen gewesen; eine Mauer umgab den Gemüsegarten und ein Gehölz den Blumengarten. Niemand konnte von außen hineinspähen. Bequemlichkeit, Abgeschlossenheit und herrschaftliches Aussehen machten das Fleckchen Erde, wie der General sagte, zum idealen Wohnsitz eines Engländers.« (Meredith, Seite 6f)
Zurück zur Liebe, zurück zur richtigen Größe des eigenen Gartens — so groß, dass ihn unsere Liebe umfassen kann. Trifft das nicht auch auf unseren Freundeskreis zu, auf die Themen und Inhalte, mit denen wir uns beschäftigen, die Systeme, in denen wir versuchen Ordnung zu halten und möglicherweise unsere Ideen aufwachsen und groß werden sehen. Ideen, die wir pflanzen, düngen, um sie das Unkraut jäten, zarte Gewächse, die wir stützen und neben ihnen hackenn, denen wir das Licht geben zu gedeihen und vielleicht und mit etwas Glück und unserer ganzen Liebe, ernten wir etwas. Die Bereiche, Orte, Gedanken, Räume, Facetten unseres Lebens, möglichst so groß, dass wir sie mit unserer Liebe umfassen können. Gärten seien ehrliche Orte, so schrieb Ralph Waldo Emerson, kein Baum, keine Rebe sei zur Täuschung fähig, nach zwei oder drei Monaten würden sie einen genauen Bericht darüber ablegen, welche Behandlung sie erfahren hätten. (Emerson, Seite 449) Gilt das nicht auch für die Bereiche, die ich oben im Absatz nannte? Was meinst Du?
Das Leben gibt uns genau das wieder, was wir aussäen, das Leben ist ganz ehrlich und so unmittelbar wie vertrocknete Tomatenpflanzen, die wir vergaßen zu gießen. Sophie von La Roche, Großmutter Bettina von Arnims und Clemens Brentanos schrieb in ihren Reisebericht über ihre Frankreichreise so treffend über die Gartenleidenschaften ihres Vaters: » (...) sondern damit auch Euer guter Vater seine ihm so lieben Gartengeschäfte anfangen könne, weil sie seiner Gesundheit und Heiterkeit wohlthun werden.« (La Roche, S. 2f) Die Zeit im Garten kann besonders schön sein, wenn man sie zu zweit genießt, wenn ich Christian Morgenstern richtig verstehe, »Die Sonne innerer Heiterkeit muss sich zuweilen von Seele zu Seele grüßen, dann ist auch im schwierigsten Falle vieles in Ordnung.« Heiterkeit, ich glaube, das ist etwas, das unserer Zeit gerade sehr fehlt. Nicht immer das Trennende suchen, sondern im Gemeinsamen eine erfüllende Heiterkeit finden, eine Heiterkeit, die mir selbst gerade so ungeheuerlich fehlt.
Orte aufsuchen, an denen uns die Natur die Herrlichkeit ihre Stille und Einsamkeit offenbart (Emerson S. 53f), leitet mich zu einem eher überraschendem Ende dieses Briefes zum Thema Garten. Ein Thema, zu dem ich mich gerne noch einmal zu einem anderen Zeitpunkt Dir zuwenden würde. Das Überraschende ist der Ort von dem ich Dir schreibe, denn wir sind verreist!
Seit Freitag sind wir mit unseren Rädern von Liége in der Wallonie Richtung Frankreich unterwegs, dass wir heute erreicht und ein Stückchen durchquert haben. Über Maubeuge erklommen wir auf einer alten Bahntrasse den winzigen Hügel bis Trélon, einem kleinen Städtchen im Département Nord in der Region Hauts-de-France. Trélon, nicht mal so weit von Chimay entfernt, das für sein Bier so berühmt ist, liegt bei zwei hübschen kleinen Seen, deren Wasser einige Kilometer abwärts wieder in die Sambre fließen, die wir heute am späten Morgen verlassen haben.
Morgen geht bei hoffentlich schönem Wetter weiter nach Guise, einem Ort, der dem Adelsgeschlecht der Guisen ihren Namen gegeben hat, wichtige Berater am Hofe Karl IX, Sohn von Caterina de' Medici und unmittelbar verwickelt in die Ereignisse und Kämpfe um die Religionsvorherrschaft und -unterdrückung im 16. Jahrhundert.
Eine aufregende Reise, die uns vorbei an klangvollen Namen wie Chantilly und Fontainebleau vorbei bis nach Amboise führen wird, in dem Leonardo da Vinci beerdigt wurde. Und an der Loire schließt sich dann auch voller Anmut der gärtnerische Kreis, denn in Amboise kam der Renaissancegarten Italiens nach Frankreich.
Ich bin sehr gespannt, was wir auf der Reise entdecken und erleben werden. Dazu mehr im nächsten Brief, wenn wir wieder zu Hause sind.
Genieß die schönen Spätsommertage im Garten oder in der Natur, denn bald fällt wieder der schwache Schein der untergehenden Sonne mit seinem rauchigen Licht in die glänzenden Herbstwälder. Es sind Tage, in denen sich das Wasser in den sanften Wellen der Flüsse kräuselt und die sich zum Horizont schlängelnden Fluten glänzen wie lauter goldene Schuppen. Ein Zauber, den John Galsworthy so beschrieben hat.
Wir können uns darauf freuen, da bin ich sicher.
Ich grüße Deine Heiterkeit, von meiner Seele zu Deiner.
Dein Thomas
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Quellen:
»Der Umfang des Anwesens betrug einen halben Morgen, gerade die richtige Größe für das, was General Ople mit seiner Liebe umfassen konnte.« — Aus: Meredith, George : General Ople und Lady Camper. In: Kraushaar, Richard (Hrsg.) : Englische Erzähler 2 – Von Georg Meredith bis Evelyn Waugh. Manesse-Verlag, Zürich 2006, Seite 7.
»(...) nichts scheint so viel wert zu sein im Leben, wie einen Garten anzulegen.« — Emerson, Ralph Waldo; Brôcan, Jürgen (Übersetzer) : Tagebücher: 1819 - 1877. Erste Auflage. Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin, 2022. Seite 305. Geschrieben am 22. März 1838, da war der Autor erst fünfundreißig Jahre alt.
von La Roche, Sophie : Journal einer Reise durch Frankreich. Richtersche Buchhandlung, Altenburg 1787. Quelle: https://books.google.de/books?id=f_5cAAAAcAAJ&hl=de&pg=PP5#v=onepage&q&f=false (Besucht am 2. August 2024)
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