Briefe an Irene XVI - November 2025
Nov 10, 2025 12:49 pm
Wuppertal, 10. November 2025
Liebe Irene,
wie geht es Dir? Hattest Du einen schönen Oktober? Ich habe das Gefühl, die Zeit der goldenen Oktober mit einem alles überspannenden blauen Himmel scheint irgendwie vorbei. Hast Du im letzten Monat viel Zeit draußen verbracht und das zu Ende gehende Vegetationsjahr noch einmal mit allen seinen bunten Farben und vielfältigen ockerfarbenen und goldenen Tönen in Dir aufgenommen?
Oder liegst Du wie der Protagonist in dieser Geschichte den Tropfen im Nebel zu?
»Er hat sich ins Bett gelegt und ist nicht mehr aufgestanden: Durchs Fenster sieht er die Äste des Nußbaums, die Blätter, die die Schreiben streifen, werden gelb, rollen sich ein, der Wind reißt sie eines nach dem anderen herunter, zwischen den wenigen, die noch übrig sind, erscheint grau der Herbsthimmel. Morgens fließt der Nebel in langsamen Tropfen die Zweige entlang, dazwischen erkennt man das Haus, das mit seiner fensterlosen Mauer den Garten abschließt.«
Rosetta Loy, Straßen aus Staub
Ich möchte trotz der trist wirkenden Stimmung, jeden Tag mit Absicht anfangen. Und der erste Tag des neuen Monats machte einen guten Anfang. Denn, den schönsten Tag habe ich – was das betrifft – am 1. November verbracht. Allerheiligen. Wie Du Dich bestimmt erinnerst, fahren wir seit der Geburt unserer Kinder mit einer befreundeten Familie jedes Jahr nach Schloss Dyck im Rheinland. Beide Familien haben in etwa gleichaltrige Kinder, bei jedem Wetter machen wir die Tour und in jedem Jahr. Ganz ganz selten kann jemand nicht dabei sein und es ist jedes Mal eine Freude zu sehen, wie sich Menschen auf Anhieb gut verstehen, wenn sie sich so lange kennen. Alle paar Jahr mache ich für die Gemeinschaft ein Fotobuch aus all den Eindrücken. Der Park hat sich im Laufe der Jahr sehr gewandelt. Die beiden ältesten Buchen gibt es nicht mehr, dafür wurden sehr viele neue Bäume gepflanzt. Der Park wird so gepflegt, wie eine gute Freundschaft auch der Pflege bedarf.
Dieser Tag Anfang November ist auch der Tag, an dem ich in mich (oder sollte man sagen: in mir?) Natur aufnehme und Energie tanke. Abends essen und spielen wir miteinander.
Es ist erstaunlich, wie sich Freundschaften für mich entwickelt haben. Jeder weiß, dass das im Alter immer schwieriger wird. Nicht nur Corona, auch das Alter macht mich härter, ungeduldiger und strenger. Strenger mit mir selbst, aber auch strenger mit anderen. Geduld fällt mir nicht mehr so leicht, vielleicht liegt das aber auch daran, dass Tugenden wie Verbindlichkeit, Pünktlichkeit, Zuwendung, Affirmation und Aufrichtigkeit auf dem Rückzug sind.
Und obwohl uns ja der technische Fortschritt alles abzunehmen scheint, die Heizung das Holzsammeln, die Waschmaschine das Waschen, der Staubsauger das Fegen, haben wir nicht mehr Zeit, sondern immer weniger. Jetzt möchte uns künstliche Intelligenz auch noch das Abnehmen, das uns am meisten Spaß macht: das kreativ Sein, das bildende Schaffen, das freie und unabhängige, tiefgründige Denken. Ich frage mich ernsthaft und sehr beunruhigt, woher die teils gehässige Freude darüber kommt, all diesen kreativen Menschen nun die Arbeit abzunehmen. Freilich, und das kennst Du von mir ja nicht anders, würde ich das niemals allen Menschen in dieser Branche zuweisen.
Wie gewinnen wir, angesichts eines Mahlstroms von sich vorwärtswälzenden Innovationen noch einen sicheren Stand in einer Welt, die bei jedem Aufstehen irgendwie hässlicher und kaputter geworden ist? Ich gebe zu, dass ich mich manchmal nostalgisch nach einer Zeit zurücksehne, zu der Bauern noch ohne 5000 Messpunkte wussten, wie es auf ihrem Acker aussieht. Dass ich mich in einer Zeit zurücksehne, wo ich Heuwagen auf einen einfachen Anhänger auflud, ihn in einer Scheune entlud und danach mit dem Bauern und meinen Freunden einfach ein paar Brote aß und dazu Limonade trank.
Nostalgie, das schrieb der spätere Elsässer Arzt und Politiker Johannes Hofer der Ältere (1669–1752) in seine Dissertation, sei das Gefühl in der Ferne, wenn man seine Heimat vermisse. Er hatte diese Krankheit bei Schweizer Söldnern erforscht. Erst später wandelte sich die Bedeutung des Begriffes zu dem, was wir heute darunter verstehen. Eine Idee ist, dass diese Sehnsucht aus einem aktuellen Mangel heraus entsteht. Wenn dies so ist, dann kann ich das für mich nur bestätigen.
Meine nostalgischen Gefühle entstehen zumeist aus dem Alltag heraus. Alltag ist, wie Du Dir sicher vorstellen kannst, eine der größten Belastungen für mich. Ich verstehe die Handlungsweise vieler Menschen nicht mehr. Diesen Mangel an Verständnis, diesen Mangel an Zuwendung. Vor ein paar Jahren war ich bei Peek & Cloppenburg und stellte fest, in meiner Größe führt man nur drei Hemden. Alle weiß. Auf freundliche Nachfrage wurde mir beschieden, was für Erwartungen ich eigentlich hätte. Ich dachte, immer die größten, mein ständiger Irrtum. Und ging. Letzten Freitag war ich in der Wittener Filiale des größten deutschen Kunstbedarfhändlers. Was dort als Graupappe verkauft wurde war von schlechter Qualität. Darauf angesprochen wurde mir beschieden, das wäre vielleicht meine Vorstellung von Qualität, sie hätten aber eine andere.
Diese zwei kleinen Episoden, von denen ich Dir gerne die Details der Konversation ersparen möchte, sind für mich symptomatisch. Immer häufiger wird ein unbeirrbarer eigener Standpunkt eingenommen, der allem entgegenzustehen scheint, womit ich groß geworden bin und wie ich erzogen wurde. Ich meine, ich begreife auch, dass »der Kunde hat immer recht« bei den teils schwierigen Kunden heute, eine überzogene Erwartung ist. Aber andererseits, sollte man doch noch in der Lage sein, einen Irrtum oder einen Fehler zu erkennen. Dem Kunden absichtlich ein fehlerhaftes Produkt als ganz zu verkaufen, empfinde ich schon als frech.
Mir scheint es, als würden viele Menschen im Moment versuchen, sich in einer beschleunigt sich verändernden Welt einen Stand zu erklimmen, von dem aus sie unangreifbar sind. In dem sie sich mit, ich möchte es wirklich einmal so nennen, mit Ignoranz unangreifbar machen. Ich parke falsch, ich parke auf dem Radweg. Nun denn, who cares. Ich sage dem Kunden, ja, das Produkt ist schlecht, wir wissen es, wir wissen aber auch, Du kannst nichts tun. Nur wir haben es noch. Die anderen haben wir alle platt gemacht.
Das ist für mich so anstrengend. Und so ist dieser Brief diesmal auch weniger von dem Optimismus erfüllt, der mich sonst immer so beseelt.
Aber Ausnahmen bestätigen die Regel und diese seltene Gelegenheit ergab sich am letzten Samstag, als wir zu meiner Schwiegermutter nach Süddeutschland gefahren sind. Sie wohnt bei Bruchsal und wir nutzten als Familie die Gelegenheit in unserem Lieblingsgeschäft im Heidelberger Stadtteil Hendse aka Handschuhsheim vorbeizufahren. Dort hat in der alten Handschuhsheimer Landstraße nicht nur der Künstler und Buchautor Albrecht Rissler sein Atelier, dort gibt es auch ein wunderbares, nun mehr von einer neuen Frau- und Mannschaft geführtes Geschäft für indische, italienische und japanische Künstlerpapiere. Diese teils gebatikten, sieb-, holzschnitt- oder offsetgedruckten Kunstpapiere sind das Gegenmodell zum, wie ich es nunmehr empfinde, seelenlosen Geschäftsmodell der Grossisten. Pappenheimer heißt der kleine gemütliche Laden und ich habe dort bei diesem Besuch mehr Geld gelassen, als ich das ganze letzte Jahr für Kleidung ausgegeben habe. Es war mir ein großes Vergnügen. Ganz besonders, als da meine Schwiegermutter selbst einmal so gerne mit selbst gefärbtem Seidenpapier und selbstgefärbtem Wollfilz Kunst gemacht hat.
> Pappenheimer Heidelberg
> https://www.pappenheimer-heidelberg.de/
Der letzte Monat hat mich daran erinnert, dass es nicht immer leicht ist, die Handlungsbeweggründe anderer Menschen zu verstehen. Ja, meine Erwartungen sind hoch. Aber, Du kennst mich, meine höchsten Erwartungen habe ich an mich selbst. Nicht jeder nimmt Anteil, manche überhaupt nicht. Das Glück anderer Menschen und unser eigenes Glück sollten immer im Vordergrund stehen. In der Reihenfolge. Nur so bleiben wir eine Gemeinschaft und eine Gesellschaft, in der alle glücklich sind.
Damit sich dieser blaue, wunderschöne Himmel, den wir in dem ganzen nebligen November so wenig gesehen haben, weiterhin über allen Menschen aufspannt.
Ich wünsche Dir schöne Tage, eine bleibende gute Gesundheit und für den kommenden November alles Gute. Das größte Glück ist es, jeden Tag ein Lächeln zu verschenken.
Und wie John Irving schrieb »Bleib weg von offenen Fenstern!«.
Dein dankbarer Neffe Thomas
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Quellen:
Tropfen im Nebel
Loy, Rosetta; Pflug Maja (Übers.) : Straßen aus Staub. 2. Aufl. Übersetzt von Maja Pflug. Arche Verlag, Zürich 1989. Seite 17