Briefe an Irene : Juli 2024
Jul 08, 2024 12:14 pm
Wuppertal, 8. Juli 2024
Liebe Irene,
ich schreibe Dir aus meinem schönen Büro in Wuppertal. Das sich gestern ankündigende Wetter hat sich heute durchgesetzt, es ist satt warm geworden, die Luft ein wenig schwül und erfüllt vom Duft der verblühenden Rambling-Rector-Rose. Ich hoffe, Dir geht es, da wo Du gerade bist, gut. Ich denke häufig an Dich und ich vermisse Deine warmherzige, aber direkte und ehrliche Art die Welt zu sehen. Man kann nicht alles ändern, aber das was man kann, das muss man auch.
Wie Du ja weißt, schon seit Februar 2023 lese ich nun schon in Ralph Waldo Emersons Tagebüchern, die der, nun in Dortmund lebende, Schriftsteller und Autor Jürgen Brôcan bis 2022 neu übersetzt hat. Das Lesen und Arbeiten mit dem Buch ist mir seit dem eine große Freude und gibt mir viel Kraft und Affirmation. Die wenigen Tage, in denen ich Zeit zum Lesen der Seiten finde, gehören zu den wertvollen Momenten meines Lebens. Kennst Du das Gefühl, wenn Du einen Satz liest, der Deine gesammelten Gedanken zu einem Aspekt des Lebens auf einen Punkt bringt? Dieser Ralph Waldo Emerson war so ein Mensch, er wird auch als der bedeutendste Philosoph Nordamerikas des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet. — Ich weiß noch nicht, ob das für mich stimmt, von so vielen habe ich leider noch nicht gelesen.
Ich werde es nicht schaffen, in diesen wenigen Zeilen die vielen Seiten zusammenzufassen, aber aus den letzten Tagen sind mir ein paar schöne Dinge in Erinnerung geblieben, die auch der Grund waren, meine Briefe an Dich aufzunehmen. Emerson schrieb nämlich Folgendes in sein Tagebuch, irgendwann zwischen 1863 und 1864: »Ich sollte über die Macht der Minoritäten schreiben. Insgeheim ist jedes Buch allein im Hinblick auf die wenigen intelligenten Personen geschrieben, die der Schriftsteller kennt oder an deren millionenfache Existenz er glaubt.« (S. 840) Das erinnert mich an den guten Rat, beim Sprechen auf einer Bühne sich einen Menschen im Publikum zu suchen, den man direkt anspricht. Und ja, vielleicht ist es ja wirklich so, dass uns die Vorstellung eines Angesprochenen hilft, unsere Gedanken in eine direkte Form zu bringen, es muss ja keine Ansprache sein. Was meinst Du?
Foucault schrieb 1983, in »L'écriture de soi«, vielleicht zutreffend mit »Das Schreiben über sich selbst« übersetzt, sinngemäß, dass das Schreiben vielleicht auch helfe, die Gefahren der Einsamkeit auszugleichen, da man das was man denke oder gedacht hat, einem möglichen Blick preisgebe. Dem ist mit Bestimmtheit so und diesen Drang verspüre ich seit der schlimmen Corona-Pandemie und dem dadurch entstandenen Mangel ganz besonders. Deine Anwesenheit in meinen Gedanken hilft mir möglicherweise, diese etwas besser zu ordnen und einzuhegen, wie es eine Kollegin letzte Woche zu mir sagte.
Um zu Emerson zurückzukommen — wie wahrscheinlich noch häufiger in so manchem kommenden Brief — er schrieb im selben Jahr auch, dem Sinne nach, dem Genie gelänge es, jedes ordinäre oder banale Wort aufzuhellen (S. 842). Ich finde, dies trifft auch auf andere Situationen, Gelegenheiten und Anlässe zu. Es gibt diese Menschen – wahrscheinlich ist das Wort Genie auch etwas überheblich und etwas übertrieben – denen es gelingt Licht in einen Moment, in eine Versammlung oder ein Gespräch zu tragen. Deren Persönlichkeit leuchtet, wie Du es manchmal getan hast, wenn Du von Deiner Arbeit in den Familien gesprochen hast.
Heute fand ich dann auch in seinem Buch noch etwas ganz Wunderbares, einen nochmaligen Hinweis auf Saadi oder Sa'di (in westlicher Schreibweise), den in Schiras – auf dem Gebiet des heutigen Iran – geborenen persischen Dichter. Er lebte im 13. Jahrhundert und in einer Kultur, in der auch die mündliche Überlieferung einen hohen Stellenwert hatte. Emerson erwähnte ihn bereits knapp 20 Jahre zuvor und schrieb damals, dass eine Autobiographie die Antwort eines Menschen auf die wichtigsten Fragen seiner Zeit sein sollte. (Ist das nicht ein ziemlich hoher Anspruch?) Und dass, eben genau der Rosengarten, eines von den zwei berühmtesten Büchern Saadis, diese Antworte gebe. Es bestärke »den Leser in seiner besten Haltung« und es diene der »Imagination und dem Geschmack«. Das war 1847, da war R.W.E. gerade einmal 44 Jahre alt. Schon damals habe ich, leider nur digital, denn Du weißt ja, wie gerne ich Bücher in Griffnähe habe, aber trotzdem mit Vergnügen in seinem Buch gestöbert. Hast Du den Namen Joseph von Hammer Purgstall oder Karl Heinrich Graf schon einmal gehört? 1846 brachte letzterer eine neue deutsche Übersetzung der Gedichte Saadis heraus, ob es die Gedichte in Buchform es mit einer der Atlantik-Linien bis 1847 nach Concord geschafft haben, ich kann es Dir leider nicht sagen. Aber vielleicht waren Emerson bereits auch andere deutschsprachige Übersetzungen geläufig, wie vielleicht die des württembergischen Beamten Friedrich Ochsenbach von 1636 oder die spätere und heute kostbare des Mathematikers und Geographen Adam Ölschläger (Olearius) von 1654. Welche Offenbarung muss dieser Zugang zu dieser entfernten Literatur zu dieser Zeit gewesen sein. Olearius' Buch erschien in Hamburg unter dem Titel: »Persianischer Rosenthal. In welchen viel lustige Historien scharffsinige Reden und nuzliche Regeln. Vor 400. Jahren von einem Sinnreichen Poeten Schich Saadi in Persischer Sprach beschreiben«. Das Deckblatt solltest Du dir anschauen, der Titel wird von einem riesigen Löwenfell eingerahmt. Den Link schreibe ich Dir unten hin.
Jedenfalls, und deswegen schrieb ich überhaupt darüber, verfasste Emerson das Vorwort zu amerikanischen Ausgabe Saadis Gulistan oder Rosengartens, der 1865 auf der Basis von Francis Gladwins Übersetzung bei Ticknor & Fields erschien. Zu den genaueren Umständen muss ich Dir einmal etwas erzählen, jedenfalls waren sich Ticknor, Emersons Nachbar Nathaniel Hawthorne und Emerson keine unbekannten, denn Ticknor gab Emersons Werke heraus. Du musst wissen, von Concord, wo Emerson lebte bis nach Boston ist es nicht so weit, stramm marschiert nur 7 bis 8 Stunden Laufstrecke.
Jetzt habe ich schon wieder den Faden verloren.
Über Saadi schrieb Emerson in seinem Vorwort, er fände auf seiner für uns aufgespannten Leinwand Platz für eine Vielzahl von Themen und Extremen, »das Spiel der Motive, die Herrschaft des Schicksals, die Lektionen der Moral und die Porträts großer Männer.« (S. V) Er sei ein »Dichter der Freundschaft, der Liebe, der Selbsthingabe und der Heiterkeit.« Die einheitliche Kraft, die von seinen Seiten ausginge sei erfüllt von einem »Ton der Heiterkeit, der seinen Namen fast zu einem Synonym für diese Anmut gemacht hat.« (S. VII) Erinnerst Du Dich, wie ich Dir von meinen Recherchen zur Anmut erzählt habe?
Heiterkeit. Ist das nicht etwas, was uns heute so oft fehlt im Alltag? Fröhlichkeit und Humor im Alltag. Und Heiterkeit im Alltag des Lebens ist Schönheit, das schließe ich aus diesem Satz von Tanizaki Junʼichirō schließen: »Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens.« So heiter wie Du, denke ich gerade.
Emerson fährt in seinem überschwänglichen Lobe fort, dass nämlich Glück bei Saadi »nicht das Ergebnis von Leichtsinn, noch viel weniger von geselliger Gewohnheit, sondern zunächst von einer glücklichen Natur, der der Sieg zur Gewohnheit geworden ist, die leicht über Missgeschicke hinweggeht, die empfänglich für Vergnügen ist und über Mittel gegen Schmerzen verfügt« sei. (ebd.) In sein Tagebuch schrieb er zuvor am 2. November 1863, und deswegen kam ich ja überhaupt erst darauf, Saadi sei »der Dichter der Freundschaft, der Liebe, <der Schönheit,> des Heldenmuts, der Aufopferung, der Freude, der Freigebigkeit, der Heiterkeit und der göttlichen Vorsehung.« (Tagebücher, S. 843)
Auch heute noch ist Saadi beliebt und berühmt, er wurde sogar in den letzten Jahren neu übersetzt. Und ein Gedicht von Saadi soll es sogar an eine Wand der Eingangshalle des UNO-Hauptquartiers in New York geschafft haben. Leider habe ich kein Bild davon gefunden, ich glaube aber trotzdem ein Mal, dass das stimmt, das Gedicht habe ich aber einmal für Dich abgeschrieben:
Adams Kinder einander Glieder sind,
Da sie aus einer Perl’ erschaffen sind.
Fügt nur ein Glied Leid hinzu der Welt,
Die andren Glieder dies in Aufruhr hält.
Dir, der dich die Not der andren nicht berührt,
Geziemt es nicht, dass dir der Nam’ »ein Mensch« gebührt.
Ich glaube, dieses, dem Koran entlehnte Gedicht, hätte Dir gefallen. Das Leid anderer Menschen hat Dich immer sehr berührt, das weiß ich. Und so positiv gestimmt denke ich auch an Dich,
Dein Thomas
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Wenn Du mehr lesen oder wissen willst:
Ralph Waldo Emersons Tagebücher
Emerson, Ralph Waldo; Brôcan, Jürgen (Übersetzer) : Tagebücher: 1819 - 1877. Erste Auflage. Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin, 2022.
Michel Foucaults « L'écriture de soi » Das Schreiben über sich selbst (Französischer Text)
http://1libertaire.free.fr/MFoucault248.html (Besucht am 30. Juni 2024)
Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik.
Tanizaki, Junʼichirō; Kloppenstein, Eduard (Übers.) : Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik. Manesse-Bücherei Bd. 4. Zürich: Manesse Verlag, 5. Auflage 1990.
Die deutsche Übersetzung von Saadis Rosengarten von Karl Heinrich Graf auf Archive.org
Saadi; Graf, Karl Heinrich (Übers.) Moslicheddin Sadi's Rosengarten. F. A. Brockhaus, Leipzig 1846. Quelle: https://archive.org/details/moslicheddinsad00grafgoog/ (Besucht am 30. Juni 2024)
Einen Blick auf den wunderschönen, von Rothgiesser gestochenen Titel der Ausgabe von Adam Olearius kannst Du hier werfen
Ralph Waldo Emersons Vorwort in der amerikanischen Ausgabe von 1865
Saadi, Musle-Huddeen Sheik; Gladwin, Francis (Übers.) : The Gulistan or Rose Garden. Mit einem Essay über Saadis Leben von James Ross und einem Vorwort von Ralph Waldo Emerson; Ticknor & Fields, Boston 1865. Quelle: https://archive.org/details/gulistanorrosega00sadi/page/n5/mode/2up (Besucht am 30. Juni 2024)
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