Briefe an Irene XIV - September 2025

Sep 08, 2025 2:46 pm

Wuppertal, 8. September 2025


Liebe Irene,


ich sende Dir herzliche Grüße aus dem grau verregneten Wuppertal. Es ist schwül. Wie geht es Dir heute, an dem zweiten Montag im September? September ist der Monat, in dem sich der Sommer von uns verabschiedet. Langsam und manchmal auch drastisch, wenn es so stark regnet, dass das Regenwasser sich in Sturzbächen über die Ränder der verstopften Regenrinnen in unseren Garten ergießt. Im Moment verstopfen die Blütenblätter der nahestehenden Linde unsere Regenrinnen. Eine lästige Arbeit, diese zu reinigen, möchtest Du vielleicht meinen? Ja, aber die großen, zungenförmigen Deckblätter der Linde haben mich die letzten Wochen mit ihrem Flug beglückt, wie sie sich langsam aus dem blauen Himmel, vom sachten Wind zu uns getrieben, zu Boden schraubten. Wie kleine Fallschirmspringer setzten sie dann auf unseren Dächern und in unserem Garten zur Landung an. Vor unserem Urlaub in Umbrien, zu dem wir am Freitag aufbrechen werden, nehme ich noch eine letzte Reinigung der Rinnen vor, dann sollte das nicht mehr Vorkommen.


Das Kümmern um die Dinge, die zu einem gehören, das gehört zum Leben einfach dazu. Alles aus Liebe, ... ; Ein Garten nur so groß, ... Du weißt schon.


Du wirst merken, dass ich Urlaub habe, der heutige Brief fällt deutlich länger aus, dabei kann ich nicht einmal alles auf den schmalen Zeilen unterbringen. Und eine Notiz, die ich mir nach dem letzten Brief machte, muss ich sogar gänzlich ignorieren. Da stand: »Alles zum Thema Schreiben aus dem Zettelkasten». Hybris, liebe Irene. Die Hybris.


Es geht vom Regen zum Schreiben, von Postkarten zur Lakonie und dann zu William Wordsworth Narzissen – wie viel schöner ist das Wort Daffodils - oder? Man möchte es knuffen wie Deine alten Paradekissen. Weiter geht es dann zu der Schreibkunst, der hohen Schreibkunst eines verstorbenen Schweizer Schriftstellers, dessen wichtigstes Buch nun endlich hier auf dem Schreibtisch liegt. Spoiler, es ist Schilten. Es ist ein weiter Bogen, hoffentlich reißt mir beim virtuosen Spiel die Saite nicht. Aber es lohnt sich, so hoffe ich, denn im Grunde geht es in diesem Newsletter nicht nur darum, seine Gedanken beim Sprechen zu verfertigen, oder wie Kleist selbst es nannte, die Fabrikation einer Idee auf der Werkstätte der Vernunft (Siehe die Werkzeugkiste bei Stephen King), sondern darauf zu vertrauen, dass man in der Übung die einem selbst eigenen Sprache findet, aber dazu später.


Mit dem sich neigenden Sommer standen auch einige Ernten an. Und ich kann Dir voller Stolz berichten, dass wir nach einem diesbezüglich dürftigen Jahr, endlich wieder eine größere Zahl köstlicher Tomaten geerntet haben. Leider ging aber unser Freilandversuch im Gemüsebeet schief, weil die Tomaten weder ein Dach hatten, noch hinreichende Stützen. Krautfäule, Wind und Wetter machten ihnen bereits Mitte August den Garaus. Unser schöner Apfelbaum dankte uns die gute Pflege mit einer reichen Ernte von wunderschönen Winterglockenäpfeln. Leider ist es mir bisher nicht gänzlich gelungen, seiner Herkunft auf die Spur zu kommen. Selbst die Pommologen sind da ratlos. Das alte Land bei Hamburg oder die Schweiz wird vermutet, wo der stolze riesige Apfel noch in den 50er Jahren zu den beliebtesten Handelsäpfeln gehörte. Der Winterglockenapfel ist ein ausgezeichneter Lager- und Backapfel mit einem würzigen Aroma. Nur frisch geerntet finde ich ihn persönlich zu sauer. Mal schauen, wie sich in diesem Jahr die Lagerung ausnimmt, vor zwei Jahren haben wir den letzten Apfel Ende März verbacken. 


Ich denke weiterhin viel über den Regen nach, und welche Bedeutung er für uns hat. Ohne Regen verwandeln sich alle Orte in Wüsten. Und in Wüsten wächst keine Nahrung. Regen hat also eine immense Bedeutung. Von einer Kollegin, deren Familie aus Marokko stammt, lernte ich, dass es dort keine negative Nebenbedeutung (Konnotation) mitschwingt, wenn über Regen geschrieben oder gesprochen wird. Kein Wunder. Große Teile des Landes sind Wüsten. Für jeden Tropfen ist man dankbar. Aber dieser Dank, diese Empfindung spielt sich im Kopf ab. Und in weiten Teilen der zentraleuropäischen Kulturgeschichte empfinden wir den regenreichen Herbst, in dem sich der helle, strahlende, feist grün leuchtende Sommer in dieses trübe, neblige, nasse, und entfärbende Etwas verwandelt, das wir Herbst nennen. Laut Grimm der Monat, an dem die Sonne am 21. September in die Waage eintritt, der Monat, der nach den griechischen Worten für Frucht, Ernte und Pflücken benannt ist.


Und das ist hier meine Frage an Dich: Brauchen wir nicht eine andere Sprache für Regen, damit sich in unseren Köpfen ein anderes Denken über Regen breit macht? Im April schrieb ich Dir schon das schöne Bild vom silbrigen Regen. Dieses Bild ist mir im Kopf geblieben und ich mag es, wenn sich ein feuchter Glanz auf den Hortensienblättern im Garten einstellt. Und ich merke, ich gehe zu selten bei Regen in den Garten. Zu selten bei Regen hinaus.


Gestern war ich Deine Schwester und meine Mutter im Altenheim besuchen. Dabei führte ich auch ein paar sehr interessante Gespräche mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern. Du musst wissen, ich verfolge immer noch den Gedanken, Menschen zu ihrem Leben zu interviewen. Mir macht das neugierige Erkunden des menschlichen Daseins so viel Spaß. Im übrigen finde ich das englische Wort für neugierig sein viel angemessener als das deutsche Äquivalent, in dem für meinen Geschmack zu viel Gier auf zu viel Neues steckt. Curiosity, so heißt Neugierde im Englischen, finde ich als Begriff mir mehr zu getan. Der Grimm kennt das deutsche Äquivalent ›kurios‹ nur in zwei Quellen, das Kuriosum stammt vom lateinischen curiositas. Aber im Deutschen mögen wir kurios eher mit seltsam verbinden, mit etwas, das uns amüsiert, das uns deswegen interessiert. 


Ich werde das weiter verfolgen und eine sehr freundliche Dame habe ich auch darauf angesprochen. Sie will sich bis Ende September überlegen, ob Sie sich von mir interviewen lässt. Ich bin gespannt.


Mit meiner Mutter habe ich dann auch über die ganze Post gesprochen, die sie im Laufe der letzten Jahre bekommen hat. Briefe und Postkarten von verstorbenen Personen schreibe ich mit Zustimmung meiner Mutter jetzt alle ab und verleibe sie meinem Obsidian als eigenständiger Korpus ein. Das klingt nach sehr viel Arbeit – das ist es auch – aber es ist auch eine Fülle von winzigen Informationen in diesen ganzen kurzen und längeren Texten enthalten. Sogar über mich wurde geschrieben, meist sorgenvoll, muss ich gestehen. Das belastet mich heute glücklicherweise nicht mehr. 


Jetzt fragst Du Dich bestimmt: Postkarten? Wirklich, Thomas? 


Was soll da schon drin stehen?


Die Bedeutung liegt in der Sprache. Die Unterschiede zwischen den Schreibenden und ihrem Stil sind so subtil, wie es das Schreiben selbst ist. Ich glaube, die meisten Postkartenschreiberinnen und -schreiber fühlen sich in einer bestimmten Weise dazu verpflichtet zu schreiben. Aber es gibt auch jene, die Freude am Schreiben haben und denen die Freude der Adressatin oder des Adressaten etwas bedeutet. Die liebevolle Absicht ist es, die den Brief zu einem für das Glück des Gegenübers treffsicherem Pfeil macht. Und wie schon Stephen King in seinem teils autobiographischen, teils lehrenden Buch »Das Leben und das Schreiben« notiert, gibt es nicht die eine richtige Weise, zu schreiben. Man kann zu allerlei sprachlichen Kniffen greifen, aber auch ganz schlicht erzählen. Als Beispiel führt er unter anderem auch Hemingway an, der nicht gerade für seine barocke Fabulierkunst berühmt ist. Im Zettelkasten habe ich selbst ein paar Beispiele von ihm, die belegen, mit welcher Reduzierung sich trotzdem maximale Wirkung erzielen lässt: 


"Dann wollen wir vergnügt sein." "Das wollen wir", sagte der Colonel. "Und unser allereinzigstes Leben genießen." "Vielleicht gibt es noch andere Leben." "Das glaube ich nicht", sagte der Colonel.


Wenige Worte. Kurze Sätze. Eine große Geschichte. Ein allereinzigstes Leben. So ist es. Und diese Phrase steht uns im Text wie ein amerikanisches, überdimensionales Werbeplakat gegenüber. Siehe! Schaue! Nur ein einziges. Es ist aus »Über den Fluß und in die Wälder«.


Dann habe ich noch dies: 


Hier ist Sonne pur dafür nur auf den Bergen Schnee. Haben schon wunderschöne Wanderungen gemacht. Herzliche Grüße W. u. H.


Das ist der ganze Text einer Postkarte vom 28.2.93 an meine Mutter. Im Guten steckt schon der Schmerz über das nicht so Gute. Stephen King schreibt über die Mindestanforderung an einen Satz: »(...) da ein Satz per definitionem eine Wortgruppe ist, die ein Subjekt (Substantiv) und ein Prädikat (Verb) enthält; diese Reihung von Wörtern beginnt mit einem Großbuchstaben und endet mit einem Punkt. Zusammen stellen sie einen Gedanken dar, der seinen Ausgang im Kopf des Schriftstellers nimmt und dann zum Leser überspringt.« 


Mir steht es nicht zu, Stephen King oder die Übersetzerin zu kritisieren, aber hätte es nicht statt Gedanke Funke heißen müssen? Ein Gedanke, der wie ein Funke zum Leser überspringt, weil er den Leser elektrisiert? Die entscheidende Frage ist dann doch, was elektrisiert den Leser? Das WAS erzählt wird oder das WIE es erzählt wird? Oder im besten Falle beides? 


Sonne pur.

Nur auf den Bergen Schnee.

Die wunderschönen Wanderungen wurden gemacht. 


King erwähnt im Buch William Strunk (1869 – 1946), den Autoren von »The Elements of Style«, einer einflussreichen Anleitung zum grammatikalisch korrekten Schreiben, und nennt ihn den Mussolini der Rhetorik. Womit vermutlich die »giftige Mischung aus Purismus, Atavismus und persönlicher Exzentrik in diesem Buch» gemeint ist, als was sie von Geoffrey Pullum, einem Professor für Linguistik in Edinburgh 2009 bezeichnet wurde. Andererseits, so King weiter, hätte Strunk durchaus die Biegsamkeit der Sprache erkannt. Dann greift King aber als Zitat wieder einer sehr entmutigende These aus dem 1918 erschienenen 43 Seiten starken Heftchen auf: »Solange man sich nicht sicher ist, ob man es gut macht, ist man wahrscheinlich am besten beraten, die Regeln zu befolgen.« (S. 148) Aber wie wird man sich denn nun sicher? Hier ist nun eine gute Gelegenheit, zum Beispiel von King zurückzukehren, zur Werkzeugkiste. Zur guten Autorin oder zum guten Autoren wird man nur, ganz und gar banal, durch Übung. Wie in der Werkstatt. Ich habe Monate gebraucht, bis ich mit einer Handsäge präzise rechtwinklig sägen konnte. 


Der große Künstler Picasso hat in seiner Ausbildung bestimmt dutzende Bilder im klassischen Stil gemalt oder abgemalt, um exakt diesen Stil zu üben. Und noch einmal. Und noch einmal. Und schlussendlich hat er dann ein ganzes Leben lang gebraucht, um zu einem reduzierten Stil zu finden, der die Magie der Klarheit und Einfachheit in einem einzigen Strich zum Ausdruck bringt. Das bedeutet aber nicht, in meinen Augen, dass dies für jeden so passt oder so passen muss.


Ein anderes Beispiel für lakonischen (nüchternen, schmucklosen, trockenen) Stil habe ich bei Peter Stamm gefunden, in seinem Buch »An einem Tag wie diesem«:


»Der Hof öffnete sich, und eine weite Landschaft war zu sehen. Andreas fuhr mit dem Fahrrad. Die Landstraße führte immer gerade aus. (...) Es war ihm, als bewege er sich nicht. Am Himmel zogen dunkle Wolken vorüber, aber er wusste, es würde nicht regnen, noch nicht. Dann regnete es.«


Hier werden keine gemütlichen Spaziergänge auf gewundenen Pfaden gemacht. Nein, das Lebensschicksal ist unerbittlich, es führt uns gnadenlos immerzu geradeaus zum Horizont. Alles Leben konvergiert zum Tode. Und wie oft haben wir im Leben dieses Gefühl. Das es unerbittlich ist. Und dabei oft in Phasen der Gedanke, wir bewegen uns gefühlt nicht.


Von Stamm noch eine andere Stelle: 


»Er zündete sich eine Zigarette an, aber sie schmeckte ihm nicht, und er warf sie angewidert in den Fluss. Sie würden anfangen ihn zu meiden.«


Den entnommenen Zitaten merkt man an, welcher Idee ich bei der Lektüre auf der Spur war. Wie macht Stamm es, dass man dieses Gefühl hat, dass der Protagonist immer zu scheitert? Wie gelingt ihm diese fortdauernde Deprimierung? Es ist ein intelligentes Buch. Es war harte Arbeit es zu lesen und zu verstehen. Stamm macht es, siehe oben, mit wenigen Worten und er macht es großartig.


Ber jetzt noch einmal aus einer Postkarte vom 23. Februar 1998:


»Die Sonne und die Frühlingstemperaturen sind zwar toll, nehmen uns jedoch den Schnee weg. Nur oben auf dem Feldberg sind die Loipen noch befahrbar. Gestern und heute regnet es hier. Laut Radio schneit es auf dem Feldberg, da wollen wir morgen mal hin.«


Gerade wegen der klaren Sprache des Textes, tun sich die Abgründe dieses Urlaubs besonders tief auf. Warum fährt man eigentlich weg? Welche Hoffnungen hat man?


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Von dem berühmten Hölzchen auf das berühmte Stöckchen. Schon im letzten Newsletter erwähnte ich den schmalen Band von Hermann Burger. Und wie ich ihn fand, das ist irgendwie eine verrückte Geschichte, die hier zumindest einmal kurz – will sagen, Du kennst mich – so kurz wie möglich erzählt werden will. 


Mein wunderbarer Chef am Institut frug mich, ob ich eigentlich schon die, auf Jane Eyre und Literatur bezogenen Fantasy-Bücher von Jasper Fforde gelesen hätte. Nein. Dann mal ran!, sagte er, die sind garnicht schlecht. Worum es geht, tut nichts zur Sache, nur eines: Im Buch wird ein Gerät erfunden, mit dem man in Texte gehen kann, wie in eine andere Dimension. Stell Dir das einmal vor? In welcher Geschichte wärest Du gerne einmal gewesen? In einem Abenteuer? In einem Reiseroman? Die Frau des Erfinders im Buch entscheidet sich für ein Gedicht von William Wordsworth, für das berühmte Gedicht, »I wandered lonely as a cloud«. (Über die in meinen Augen unzureichende deutsche Übersetzung ein anderes Mal) Sie möchte die leuchtenden Narzissen am See sehen, die Wordsworth erwähnt. Wordsworth, so viel ist klar, hätte das Gedicht nie ohne die Tagebuchaufzeichnungen seiner Schwester Dorothy geschrieben. Bei einem Kommentar zu diesem Gedicht und dem von der Schwester beschriebenen Effekt blieb ich hängen. Es geht um das Elisabeth-Linné-Phänomen, das die Botanikerin Elisabeth Christina von Linné am Beispiel von Kapuzinerkresse beschrieben hat. (Om indianska krassens blickande, Heinrich Remberg beschreibt das Elisabeth-Linné-Phänomen 1950 als Sonderfall des Lichtpunktglitzerns.) Leider lag dieser Text, für den ich mich so nun interessierte, nur auf schwedisch vor. Ich begann ihn zu übersetzen, dann dachte ich mir, wie dumm, da machte sich schon vorher jemand den Rücken krumm. Und fand nach langem Suchen eine deutsche Übersetzung des Textes. Der deutsche Mathematiker Ahraham Gotthelf Kästner (1719 - 1800) hatte in Göttingen Arbeiten der schwedischen Akademie übersetzt. Darunter auch den Text »Vom Blitzen der indianischen Kresse« von gleichnamiger Elisabeth von Linné. Meine Gier auf Neues (s.o.), meine Curiosity trieb mich weiter an und so hieb ich den Spaten in diesen für mich frischen Wissensgrund. Mehr, schrie ein Wagnerscher Chor in meinem Kopf, also grub ich nach mehr. Kästner ist neben Euler der einzige Mathematiker, der in Heinrich von Kleists (1777 – 1811) wirklich außerordentlich berühmten Text »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« (1805-1806). Und ich kannte Kleists Text nicht einmal. Okay. 


Liebe Irene, Du weißt ja, dass ich kein Literaturstudium abgeschlossen habe. Also bitte entschuldige meine Unwissenheit.


Ich grub weiter. Und wie der kuriose Mensch weiß, beim Graben findet man so allerhand. Schmutzige Steine, kaputte alte Scherben, viel Dreck und Schmutz. Wie Du ja an eigener Erfahrung hier in Wuppertal und bei Dir im Sauerland weißt, habe ich in meinem Leben schon viel gegraben. Und manchmal, dann stößt man ganz durch Zufall auf einen Schatz, der einem einen weiten Horizont eröffnet, auf dem es nicht in geraden Linien auf den Horizont zu läuft, sondern auf nahezu unberührten gewundenen Pfaden. 


Und während ich grub und suchte, tiefer in den Boden stieß, bis zum Hals im Graben stand, fand ich ein wunderbares, schmales Bändchen, es war die Verschriftlichung der, von Hermann Burger an der Universität Frankfurt gehaltenen, Poetik-Vorlesung. Das Buch hieß »Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben« und es ist von 1986. Ein fast vierzig Jahre alter Text. Und trotzdem brannten die Zeilen beim Lesen bleibende Spuren in meine geistige Werkbank.


So ein lohnenswerter Text, der in eine ganz andere Richtung weist, als der Text zum Schreiben von Stephen King. Dazu ein paar Zitate, das erste mag Dir vom letzten Newsletter bekannt vorkommen: 


»Schreiben ist offenbar nicht bloß ein Kraftakt, der notwendig ist, einen Roman, ein Drama, einen Gedichtzyklus zu bewältigen, sondern eher eine Lebenshaltung. Schreibend-Sein ist eine Stilform, der Realität zu begegnen.« (Seite 99)


»Der Psychotherapeut würde den Zustand, der dem Schreiben vorausgeht, ›defizitär‹ nennen.«


Burger zitiert Ingeborg Bachmann, »es könne nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen. Er müsse ihn im Gegenteil ›wahrhaben‹ und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. ›Denn wir wollen alle sehend werden.‹«


Sehen. Wahrnehmen. Wahrhaben. Wahrmachen. Das Erlebte aufschreiben. Das Erlebbare aufschreiben. Oder wie ich es gestern in einem wunderbaren Freudschen Verprecher ausdrückte: »Du wirst nie Erleben, was ich geglaubt habe«. 


Burger sagt, und niemand hat mich zuvor, außer meiner wunderbaren Kollegin M. so zum Schreiben motiviert, wie der leider verstorbene Schweizer Schriftsteller mit der nächsten Aussage:


»Ich muß den Satz präzisieren, daß man, wenn man Schriftsteller werden will, es im Grunde schon ist, obwohl man noch eine Menge lernen kann. Man lernt als Leser, als Beobachter fremder Techniken. Zum zweiten hat man eine Entscheidung gefällt, die man nicht in einem Meisterbrief erwerben kann: die Welt als Sprache zu sehen. Es ist der Entschluß, der einen Haut eine zweite, textuelle überzuziehen.« (Seite 16)


2023, als ich das Buch von Stephen King in die Hand nahm, hatte ich bereits ein Jahr in meinem Zettelkasten gearbeitet. Als ich las, das tägliche Brot des Schriftstellers sei sein Wortschatz, habe ich das Buch tatsächlich weggelegt. Nun, in Gedanken daran, dies Dir einmal zu erzählen und weil mich das Thema Schreiben nun einmal so interessiert und so fasziniert, habe ich es wieder in die Hand genommen. 


Und ich bin mir sicher. Ich werde es zu Ende lesen. Und dann, hoffentlich bald, werde ich das verstörende Meisterwerk von Burger lesen: Schilten. 


»Wenn Sie durch das Hauptportal in den stichtonnengewölbten Schulhauskorridor treten, diesen Angsttunnel von unzähligen Schüler-Generationen, in dem es steinsüßlich und urinsäuerlich riecht, finden Sie linker Hand die Tür zum Unterstufenzimmer, rechts auf gleicher Höhe eine genau gleich große, gleich gestrichene und gleich beschriftete Tür, die einen gleich großen Unterrichtsraum vortäuscht. Öffnen Sie diese Tür unvorbereitet, als Schulhaus-Neuling, in Erwartung von Bankreihen und einer Wandtafel, tappen Sie in die gähnend leere Falle des Schiltener Gymnastiksaals.«


Das Buch ist verstörend. Die Rezension nennt es witzig. Das finde ich ein wenig ungelenk. Es ist nicht eigentlich witzig. Das Buch ist fast neuwertig hier angekommen. Ich freue mich wahnsinnig darauf. Und mir scheint, es würde keine einzige Regel, die King in seinem Text aufstellt, eingehalten.


Meinen Gedanken vom Anfang kann ich nicht zu Ende spinnen, aber ich möchte Dir gerne etwas mitgeben. Ich weiß, es gibt ein Buch, Du hast dieses Buch geliebt und es heißt nun auch wirklich so, wie dieser Monat heißt. Es wurde als Kitsch bezeichnet und mit anderen verbalen Flüchen und abfälligen Bemerkungen belegt. Es geht um ›September‹ von Rosamunde Pilcher. Ich mag es. Ich weiß, Du bist nicht schockiert. Aber viele, denen ich das erzähle, sind es. Ich mag es aus vielen Gründen: Es ist freundlich. Es ist im Verhältnis zu vielen Spiegel-Bestsellern dieser Tage erstaunlich gut geschrieben. Es gefällt den Menschen. Nicht alles, was den Menschen gefällt ist gut. Aber manchmal ist es schön, wenn gute Unterhaltung einfach gute Unterhaltung ist. Sie hat diesen Anspruch. Der ist nicht einmal niedrig. Es muss nicht immer kurios sein, was wir lesen.


Aber wie finde ich meinen Weg, magst Du Dich fragen. Durch Übung sage ich Dir. Übung. Übung. Übung. Und so findet jeder seinen Stil, und jeder Stil findet seine Leserin und seinen Leser. Gut, das ist etwas zu banal und klingt wie diese Topf-Deckelgeschichte. Ich nehme es zurück. Gut muss es natürlich sein. Nicht zwingend neu, wenn aber nicht neu, dann besser.


Neben diesen ganzen Gedanken habe ich mir ein anderes wunderschönes Buch bestellt, von der Italienerin Patrizia Cavalli den zweisprachigen Gedichtband »Diese schönen Tage«. Sie stammt aus Umbrien, wohin unsere Reise geht. Lokaler Wein, lokales Essen, lokale Lyrik. Das klingt schon fast zu perfekt. Beim Titel des Buches scheint es sich um eine Art Versprechen zu handeln. Hoffe ich. 


Ich hoffe immer das Beste.


Da ich nun selbst in den Urlaub fahre, vielleicht selbst von dem Erlebten, dem Gesehenen und dem Empfunden erzählen möchte, ist die große Frage, wie sich so viel, wie eine ganze Woche Urlaub in den Dutzend Zeilen einer Postkarte widerspiegeln kann. Es kann es nicht.


Postkarten sind Realitätsfragmente. Manchmal herausgebrochen aus dem Herzen, manchmal mit nüchternem Verstand formuliert. Oft lieblos als Pflicht notiert, sind sie doch allesamt der Spiegel vieler Seelen, die sanfte, ausklingende Wellen hinterlassen. Verblassende Erinnerungen. 


Wir müssen uns bald wieder schreiben, es ist noch so viel zu erzählen.


Lass es Dir gut gehen und bleib weg von offenen Fenstern!


Alles aus Liebe, sonst geht die Welt unter.


Dein Thomas



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In eigener Sache / briser le quatrième mur


Meinen Kollegen an der Bergischen Universität Wuppertal habe ich vor kurzem eine Einführung in Obsidian als Werkzeug zum Wissensmanagement vorgestellt. Wenn Interesse besteht, kann ich Euch gerne meinen Zettelkasten und meine Gedanken dazu in einer Zoom- oder Teams-Sitzung vorstellen.


Meldet Euch doch gerne bei mir: thomas@cronhill.de


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Quellen


Grimm Online

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/25


Herbst

„herbst, m.“, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=H06409>, abgerufen am 08.09.2025.


curios

„curios“, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=C00485>, abgerufen am 08.09.2025.


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Hemingway, Ernest : Über den Fluß und in die Wälder: Roman. 36. Auflage. Rororo 10458. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1985. 191-195 Tausend. Seite 78f


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King, Stephen; Fischer, Andrea (Übers.) : Das Leben und das Schreiben. Neubearbeitete vollständige Taschenbuchausgabe, 2. Auflage; Heyne, München 2012.


»(...) da ein Satz per definitionem eine Wortgruppe ist, die ein Subjekt (Substantiv) und ein Prädikat (Verb) enthält; diese Reihung von Wörtern beginnt mit einem Großbuchstaben und endet mit einem Punkt. Zusammen stellen sie einen Gedanken dar, der seinen Ausgang im Kopf des Schriftstellers nimmt und dann zum Leser überspringt.« Seite 147


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Pullum, Geoffrey K. (April 17, 2009). "50 Years of Stupid Grammar Advice". The Chronicle of Higher Education. 55 (32): B15. Archived from the original on 2016-04-13. Retrieved 2017-11-27.


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Stamm, Peter: An einem Tag wie diesem: Roman. 2. Auflage Limitierte Sonderausgabe, Fischer-Taschenbuch-Verlag. Frankfurt am Main: 2012.


»Er zündete sich eine Zigarette an, aber sie schmeckte ihm nicht, und er warf sie angewidert in den Fluss. Sie würden anfangen ihn zu meiden.« Seite 88


»Der Hof öffnete sich, und eine weite Landschaft war zu sehen. Andreas fuhr mit dem Fahrrad. Die Landstraße führte immer gerade aus. Er hatte Gegenwind und schien überhaupt nicht mehr vorwärts zu kommen, aber als er umdrehte, wehte der Wind wieder von vorn. Er stieg ab und schob das Fahrrad über die flache Ebene. Es war ihm, als bewege er sich nicht. Am Himmel zogen dunkle Wolken vorüber, aber er wusste, es würde nicht regnen, noch nicht. Dann regnete es. « Seite 124


Om indianska krassens blickande

Linné, Elisabeth Christina von. 1762. “Om Indianska krassens blickande.” _Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar_ 23: 284–87. [https://www.biodiversitylibrary.org/part/249327](https://www.biodiversitylibrary.org/part/249327).


Flashing Flowers and Wordsworth’s “Daffodils”

Blick, Fred. “Flashing Flowers and Wordsworth’s ‘Daffodils.’” _The Wordsworth Circle_ 48, no. 2 (2017): 110–15. https://www.jstor.org/stable/48570404.


Kleist, Heinrich von : Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden; Max Planck Gesellschaft. 2012 Webquelle:: https://pure.mpg.de/rest/items/item_2352284/component/file_2352283/content (Besucht am 1. Februar 2025)


Burger, Hermann; Beckermann, Thomas (Hrsg.) : Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1986. Quelle: https://archive.org/details/dieallmahlicheve00burg/page/n5/mode/2up (Besucht am 27. 12. 2024)


Burger, Hermann, und Thomas Strässle (Nachwort) : Schilten: Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz . 1. Aufl. Kollektion Nagel & Kimche. Nagel & Kimche, 2009.


Leseprobe:

https://cdn-assetservice.ecom-api.beck-shop.de/product/readingsample/13452912/9783312005956_excerpt_001.pdf 


Das Zitat stammt von Seite 9


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Patrizia Cavallis Lyrik handelt von Erscheinungen des Alltags, von der Heimtücke der Gefühle, der Fülle und Leere der Liebe oder vom ungleichen Kampf gegen die Zeit. Momentaufnahmen ihrer Heimatstadt Rom, Epigramme und Gedankenlyrik wechseln sich ab. Als stolpere die in Umbrien geborene Dichterin immer wieder in die trügerische Musik der Sprache, die den Eindruck eines längst aufgegebenen Sinns zu erwecken scheint.


Cavalli, Patrizia, und Piero Salabè (Übers.) : Diese schönen Tage - ausgewählte Gedichte 1974 - 2006 ; zweisprachige Ausgabe. Edition Lyrik Kabinett, Bd. 13. Hanser, 2009.

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