Briefe an Irene : Oktober 2024

Oct 14, 2024 11:01 am

Wuppertal, Montag, 13. Oktober 2024


Liebe Irene,


jetzt hat der Herbst also richtig im Leben Einzug erhalten. Die Nächte werden empfindlich kühler, das Laub an den Bäumen verwandelt sich in goldene Wolken, die uns aus Wäldern und an den Straßenrändern entgegen leuchten. Nehmen wir uns für sie und einen noch so kurzen Blick immer Zeit? Gestern habe ich den Film »Perfect Days« von Wim Wenders, dem deutschen Regisseur gesehen. Er spielt in Japan und der Protagonist nimmt sich jeden Tag wenigstens für einen Moment Zeit für einen Blick in die Natur und den Himmel. Der Moment macht ihn frei.


Hier bei uns zu Hause ist die Zeit gekommen, die letzten Schönheiten im Garten noch einmal zu genießen, bevor sie sterben und im nächsten Jahr wiederkommen. Die Sonnenbräute schwanken leise im Wind und sind eine, die herbstlichen Schatten erhellende, verkleinerte Sonnenblume. Daneben eifert Sedum Herbstfreude um die wenigen, sich im Laub der umstehenden Bäume verfangenden Sonnenstrahlen, die ihr Purpurrot erst so richtig königlich erstrahlen lassen. Eine Rose reckt ihre letzte, zartgelbe Blüte in den kühlen Wuppertaler Himmel und so langsam kleiden sich die Heidelbeersträucher in ihre buntgefleckte Herbstgarnitur. Unser Plan, sie als Hintergrund vor einer gelb-orangenen Staudenrabatte anzupflanzen ist aufgegangen, sie bilden das ganze Jahr eine schöne Wand, vor der die Farben der Blumen erstrahlen. Neben dem Haus stehen die zarten Herbstanemonen mit ihren biegsamen Körpern - wie Christian Ludwig von Hagedorn es über die Anmut schrieb - in ganzer Pracht und werden dem Begriff der Anmut, mit ihrem schwerelosen Schwanken, dem Tanz der Blüten im Wind, die kleine Kreise in die herbstlich kühle Luft malen, mehr als gerecht. Alle Farben werden jetzt in der Summe matter und bräunlicher, das satte frische Blattsalatgrün weicht einem erdigen indischen Curry; das bunte Pink der Hortensien wandelt sich zu einem zarten prinzessinnenhaften Altrosa, bis die Blüten all ihre schönen kleinen Farbspender wie alte Kleider abwerfen.


Heute Nachmittag hatte ich mit Deiner Schwester, meiner Mutter, ein schönes Erlebnis. Zu ihr gibt es gute und schlechte Nachrichten. Sie hat sich von ihrer schweren Erkrankung im Sommer erholt, kann aber wegen ihrer vielen Schwindelanfälle nicht mehr alleine zu Hause leben. Deshalb habe ich sie heute im Altenheim um die Ecke besucht, und das kleine Büchlein mitgenommen, das sie sich als Vorleselektüre gewünscht hatte. Es sollte etwas von Anselm Grün sein. Dem kultigen Benediktiner stand ich Zeit meines Lebens nicht so aufgeschlossen gegenüber, eine typisch deutsche Verhaltensweise, dem Erfolg und der weiten Verbreitung so zu misstrauen. Warum also nicht einmal etwas von ihm lesen? Vorurteile abräumen? Ich entschied mich für das äußerlich schmale Büchlein »Herzensruhe – Im Einklang mit sich selber sein«. Die Einleitung lass ich ihr heute vor. Zuvor hatte ich ihr von diesen Briefen erzählt, die ich neuerdings jeden Monat schreibe. Nachdem ich ihr erklärt hatte, warum und an wen, las ich ihr auch aus dem letzten Brief ein Stück vor, und wir mussten beide herzlich lachen. Warum gab es Anlass zu dieser Freude? Ich schrieb im letzten Brief:


»Wie schön, dass Dein Haus immer ein paar Bäume umstanden, unter denen man im Sommer im Schatten sitzen konnte.«

https://sendfox.com/cronhill/c/vye9k6/


Und genau davon hatte Anselm Grün in seiner Einleitung geschrieben. Dort heißt es sinngemäß, dass wir, wenn wir rast- und ruhelos vor unserem Schatten weglaufen, nur Erlösung im Schatten eines Baumes finden, denn nur dort verschwinde der Schatten. Wir mussten beide herzlich lachen, denn das war ja nun ein großartiges Zusammentreffen von Gedanken aus zwei Richtungen, die beide dasselbe meinten. Nämlich innerlich und seelisch zur Ruhe zu kommen. Und das konnte ich im Sauerland, mit den auf mich so einfach wirkenden Tagesabläufen und dem Innehalten, immer besonders gut. Hesychia, in der griechischen Mythologie die Personifikation der Ruhe, Erfindung des vorchristlichen griechischen Dichters Pindar, ist als Hesychasmus schon im altkirchlichen Mönchtum nachweisbar. Es galt Ruhe zu finden und Distanz zu den Affekten zu gewinnen. Angestrebt wurde ein gleichmütiger, unerschütterlicher Gemütszustand (apatheia). Nur wer die innere Seelenruhe fände, sei zu reinem Gebet fähig, könne seine Einheit mit Gott, oder wie ich es lieber ausdrücke, mit der Natur erfahren wie in einem Spiegel. 


Zur Ruhe kommen, das erinnert mich an unseren Urlaub, der jetzt schon wieder drei Wochen zurück liegt. Ich hatte Dir ja im letzten Brief von unserem Vorhaben berichtet, mit unseren Rädern von Belgien aus an die Loire zu fahren. Und wir haben dieses erstaunliche Vorhaben tatsächlich in die Tat umgesetzt. Nach unserem Aufbruch in Flemalle südlich von Liége sind wir tatsächlich auf der Scandebérique 988 km durch wunderschöne und einsame Frankreich gefahren und kamen nach 2 Wochen in der Stadt Amboise an, in der tatsächlich Leonardo da Vinci begraben sein soll. Um es kurz zu sagen, es war eine großartige Erfahrung. Jetzt stellst Du Dir bestimmt die Frage, was dauernd und täglich mit dem Fahrrad durch die Gegend zu fahren mit innerlicher Ruhe zu tun hat? 


Auf dieser Route hatte es viel damit zu tun; und das wurde uns ganz besonders in jenen Momenten deutlich, als diese Ruhe durch äußerliche Ereignisse, wie zum Beispiel die Durchquerung von Paris unterbrochen wurde. Schon am ersten Tag, unterwegs an der südlich von Liége noch sehr stark industrialisierten Maas konnten wir an uns selbst erleben, wie uns der Anblick der an beiden Flussufern aufragenden Felsen und die, in gewaltigen Büscheln an den Ufern in die Hügel aufragenden Wälder beruhigten. Dazu trug auch der gut ausgeschilderte Radweg bei, so dass man seine Augen und Gedanken frei umher schweifen lassen kann. Nur wenige Autogeräusche durchbrachen und störten die Seele dabei, frei wie ein Pendel zu baumeln.


Und so ging es auf der ganzen Reise weiter. An den Flüssen und Kanälen fanden wir das, was eben manchmal nur im Schatten Deines Birnbaumes möglich war, eben ganz mit uns und der Welt im Reinen zu sein. Ob es nun die teilweise harte Arbeit auf dem Bau bei Deinem Bruder Hennes war, oder die helfende Hand auf den Bauernhöfen Deiner Nachbarn, oder die völlige Freiheit von äußerlichen affektiven Reizen durch Medien oder smarte Telefone, man saß einfach da und war mit der Welt, die man vor sich sah zufrieden. Das ging uns fast an allen Rastplätzen auf dieser Reise so. Ob wir nun einem Frachtschiff beim Schleusen zusahen, unter der großen steinernen Eisenbahnbrücke von Huy dem in die Maas fallenden Regentropfen dabei zuschauten, wie sie im graugrünen Wasser der Maas kleine Kreise bildeten, ob unter den wispernden Pappeln an der Sambre, an einem kleinen dunklen Fischteich in den Hügeln zwischen Trélon und Hirson, bei Louise in dem hübschen Café de la Mairie in Orry-la-Ville, auf den vielen Mäuerchen und Bänken an Kanälen wie dem Canal du Loing, dem Canal de Briage — wir waren immer ganz da und es war einfach alles gut. Das gilt natürlich ganz besonders für die einmaligen und einsamen Pausen an der Loire, an denen so etwas wie echte Naturschönheit unsere Herzen erfüllte. Wir sehnten uns nach nichts, waren mit der Welt zufrieden und eins mit uns.


Ist das nicht das allergrößte Glück? Natürlich haben wir viel gesehen und viel erlebt und ich werde es alles aufschreiben und wie schon bei unserer Reise nach Dijon einen lesenswerten und poetischen, aber auch praktischen und leitenden Bericht verfassen. Das würde diesen Rahmen hier aber sprengen. Du kannst Dich aber schon darauf freuen, wahrscheinlich wird er um die Jahreswende herum fertig, wenn ich Zeit habe, all die gesammelten Informationen in einen lesbaren und lesenswerten Text zu verwandeln.


Dabei werden mir auch meine Notizen helfen, von denen ich einen Teil ja bereits als Livebericht während unserer Reise auf Instagram veröffentlicht habe. Den Link dazu findest Du wie immer in den Quellenangaben. Dieses Jahr habe ich für den Reisebericht eine neue Idee, der Gedanke dazu kam mir bei der Lektüre des Buches »Paranesi« von Susanna Clarke. Das Buch, inspiriert von den Radierungen des größten Kupferstechers und Architekturphantasten Giovanni Battista Piranesi (1720 - 1778), erzählt zunächst von einem Mann, der sich in einem riesigen, mehrstöckigen, sich über Kilometer erstreckenden Gebäudekomplex (Die Welt) wiederfindet, in Unkenntnis der Gründe und des Sinns, der dahinter steckt. Sein Aufenthalt erstreckt sich über Wochen und Jahre und irgendwann kommt er auf die Idee, Tage und Jahre nicht mehr nur zu nummerieren, sondern ihnen zusätzlich Namen zu geben, die über besondere Erlebnisse Kundschaft ablegen. So gibt es den »Vierten Tag des siebten Monats in dem Jahr, in dem ich die Korallensäle entdeckte«, den »Neunten Tag des Vierten Monats in dem Jahr, in dem ich die Sternbilder benannte« oder den »Siebzehnter Tag des Zweiten Monats in dem Jahr, in dem die Decken des Zwanzigsten und Einundzwanzigsten Nordöstlichen Saal einstürzten«. Die Jahre erhalten Namen wie »Das Jahr, in dem ich die Toten zählte und benannte« oder »Das Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam«. Wie heißt es im Buch: »Das gefällt mir viel besser. Es verleiht jedem Jahr einen eigenen Charakter.«


Seit dem ich das Buch gelesen habe, handhabe ich es in meinem unregelmäßig geführten Tagebuch auch manchmal so. Ich gebe Tagen oder Wochen Namen. Die Woche, als ich mit Diabetes ins Krankenhaus kam. Die Woche, als der älteste Sohn auszog. Et cetera. Für diese Reise hatte ich mir etwas Ähnliches vorgestellt, auch, weil ich noch eine Karte im Stile der Herr der Ringe-Karte unserer Reise erstellen möchte (ein Projekt gargantuesk-piranesischen Ausmaßes). Und so verfuhr ich dann auch. Es gibt den Tag »An den giftigen Wolkenmachern vorbei zur Stadt der zwei Flüsse«; den Tag »Die dunklen Minen und Kohlenschächte an der Sambre« oder jene Tage mit den schönen Titeln »Die braune Schlange und der beschwerliche Weg durch den wispernden Wald«, »Die Stadt in den Wolken«. Die Tage bekommen einen Charakter, den man nur unschwer noch vergessen kann. Es hilft mir, mich voller Freude an die vielen Momente und die Ganzheitlichkeit dieser Reise zu erinnern, wie sie eigentlich nur erträumt werden kann. Für uns wurde sie wahr. Ein großes Glück!


Dies wünsche ich Dir auch von ganzem Herzen.


Ich grüße Dich auch dem herbstlich umwetterten Wuppertal

Dein Thomas


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Quellen: 


Instagram Cronhill

https://www.instagram.com/cronhill/


Grazie ist Gefühl, Bildung und Körper

»Diese Neigung in ihren mannigfaltigen Ausbrüchen, und diese Bewegungen des biegsamen Körpers beobachte der Künstler: so wird seine Kunst selbst reizen, und durch die Wahl und Folge der schönen Natur wird sie überall gefallen müssen.« 

Hagedorn, Christian Ludwig von : Betrachtungen über die Mahlerey; Wendler, Leipzig 1762; https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10258059 (Besucht am 30. November 2023), Seite 28


Nach Dschuang Dse

»Wäre er einfach in den Schatten eines Baumes getreten, so wäre er seinen eigenen Schatten losgeworden, und hätte er sich hingesetzt, so hätte es keine Schritte mehr gegeben. Aber darauf kam er nicht.«

Grün, Anselm : Herzensruhe - Im Einklang mit sich selber sein. 9. Auflage. Herder-Spektrum, Freiburg Basel Wien 2002. Seite 7.


Der Ort Orry-la-Ville ist einen Besuch wert, auch wenn er unglücklich in der Einflugschneise eines der größten Pariser Flughäfen liegt. Es gibt neben dem schönen Café noch eine ausgezeichnete regionale Metzgerei (Boucherie des 3 Forêts) , eine mehrfach ausgezeichnete Konditorei und Bäckerei (Boulangerie Souverain) und einen schönen Buchladen (La Plume d'Orry). Das ist mehr als in vielen vielen anderen Orten, die wir auf unserer Reise gesehen haben.

Café de la Mairie, Orry-la-Ville, Département Oise, Region Hauts-de-France, Arrondissement Senlis

https://www.lameveritable.com/


»Das gefällt mir viel besser. Es verleiht jedem Jahr einen eigenen Charakter.«

Dieses Zitat ebenso wie die Titel der Tage und Jahre stammen aus folgendem Roman:

Clarke Susanna; Finke Astrid (Übers.) : Piranesi. 1. Auflage. Karl Blessing Verlag, München 2020. Seite 24ff.



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Absender:

Thomas Schürmann

Schorfer Straße 5a

42349 Wuppertal

+49 202 705 3745

thomas@cronhill.de


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