Briefe an Irene XV - Oktober 2025
Oct 13, 2025 12:46 pm
Liebe Irene,
wie geht es Dir? Hattest Du ein schönes Wochenende? Warst vielleicht einmal in diesen schönen, goldgelben Herbstwäldern spazieren. Für mich ist der Herbst der Monat, in dem auch ein wenig innere Ruhe einkehrt. Die Arbeiten im Garten nehmen ab, auch wenn immer noch viel zu tun ist. Aber jetzt ist die Zeit, draußen die schönen Veränderungen der sommerlichen Welt zum Herbst zu erleben und zu beobachten. Generell ist es draußen wieder feuchter und die Welt fühlt sich saftiger an. »O Regen, Regen im Herbst, grau verschleierte Berge, Bäume mit müde sinkendem Spätlaub. Durch beschlagene Fenster blickt abschiedsschwer das krankende Jahr.« schrieb Hermann Hesse (1877 - 1962) . »Nass- nass-nass – alles war nass. Die Blätter der Maispflanzen benetzten mich, das nasse Gras weichte meine Rindslederstiefel fast völlig durch, die Bäume warfen mir die gesammelten Regentropfen auf den Kopf, und bald begann der erbarmungslose Regen von neuem und trieb mich ins Haus.» schrieb Nathaniel Hawthorne (1804 - 1864) am Sonntag den 28. August 1842 in sein Tagebuch. Aber heute kommt die Sonne heraus (wie sich herausstellte nur für ein paar Minuten) und vielleicht passen zum heutigen Tage doch besser die Worte der aus Nyack im Bundesstaat New York stammenden Schriftstellerin Carson McCullers (1917 - 1967) »Der Herbst war eine Freudenzeit. (...) Nach dem langen, heißen Sommer waren die ersten kühlen Tage von einer reinen und strahlenden Schönheit.« Und auch wenn an manchen Tagen der Himmel eintönig ist wie schmutzige Watte (Rosetta Loy: Seite 17), sind viele Tage doch sonnig und klar wie den ganzen Sommer nicht.
Besagte Rosetta Loy schrieb in ihrem Buch »Straßen aus Staub« über den grauen Herbsthimmel, unter dem die Zeit nicht zu vergehen schien. »Morgens fließt der Nebel in langsamen Tropfen die Zweige entlang«, schrieb sie in ihrem Buch, das in einer erdigen, kernigen und den Menschen ganz nahen Sprache voller Rabelai‘scher Saftigkeit geschrieben ist. Zwar gelingt es Rosetta Loy nicht gut, Leserinnen und Leser in eine nachvollziehbare Geschichte mitzunehmen, aber die Autorin schafft es, dies mit einer landschaftlichen Sprache zu kompensieren. Über einen dieser landschaftlichen Aspekte konnte ich schon einen neuen Beitrag fürs Blog schreiben, was mich sehr gefreut und mir sehr viel Spaß gemacht hat. Wie verwendet die, im Piemont wie Umberto Eco geborene Autorin, den Begriff Staub im Werk? Welche Bedeutung hat der Staub für die Geschichte und die in ihr vom Schicksal geführten Personen?
Wenn Du mal reinschauen möchtest, hier ist der Link. Natürlich konnte ich beim Abfassen auch vom ein oder anderen aufgeschriebenen Zitat aus anderen Büchern profitieren.
https://cronhill.de/blog/herz-gefangen-im-staub-und-qualm.html
Das Buch von Rosetta Loy hatte ich gemeinsam mit einigen anderen in unseren Italien-Urlaub mitgenommen, über den ich Dir gerne ein wenig berichten möchte.
Hier aber zunächst einmal die Bücherliste:
›Baudolino‹
Leider hat mir das Werk enthüllt, dass Umberto Eco nur in Ausnahmemomenten wirklich ein großer Romancier war. Sein bekanntestes Buch »Der Name der Rose« stellt wohl eher die Ausnahme dar, dem Schelmenroman Baudolino fehlt besonders im zweiten Teil eine nachvollziehbare und verständliche Handlung. Diese Kapitel muten eher wie eine literarische Erzählung von Hieronymus Bosch an.
›Was vom Tage übrig blieb‹
Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro, ist ein echtes Meisterwerk gelungen, das viele vielleicht wegen der schönen Verfilmung mit Dame Emma Thompson und Sir Anthony Hopkins kennen. Für mich steht im Roman weniger die bittersüße Liebesgeschichte im Vordergrund, was die Rückseite völlig falsch empfiehlt, der Roman beschäftigt sich ausgiebig mit den Begriffen Größe und Würde und was zu verlieren droht, wenn man im Leben den falschen Menschen und den falschen Idealen folgt. Ein wundervoll geschriebenes Buch, das Dir liebe Tante auch sehr gut gefallen hätte, weil Du ja auch so oft in den Diensten von Menschen gestanden hast.
›Straßen aus Staub‹
Im italienischen Titel ›Le strade di polvere‹ deutet sich schon eher an, was das 1. Buch Mose Kapitel 3, Vers 19 andeutet: ›Im Schweiße deines Angesichts / wirst du dein Brot essen, / bis du zum Erdboden zurückkehrst; / denn von ihm bist du genommen, / Staub bist du / und zum Staub kehrst du zurück.‹ Irgendwie finde ich es schön, dass ich über die Literatur zur Bibel zurückgekehrt bin, die ja selbst große Literatur ist. Insgesamt 86 Zitate habe ich aus dem Buch abgeschrieben, so faszinierend fand ich die erdig saftige Sprache des Buches der Piemonteser Schriftstellerin, die für dieses Buch immerhin den Premio Viareggio, einen der prestigeträchtigsten italienischen Literaturpreise erhielt (und den Premio Campiello, den Premio Catanzaro, den Premio Rapallo).
›Schatten des Windes‹
Der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón, der schon im Alter von nur 56 Jahren verstarb hinterließ einen interessanten literarischen Kosmos, der sich unter anderem um den ›Friedhof der Vergessenen Bücher‹ schart. Alle Bücher spielen rund um die Franco-Ära Spaniens und beschäftigen sich mit dem moralischen Zerfall und den ungesühnten Verbrechen dieser des spanischen Bürgerkriegs und der nachfolgenden Diktatur. Vor dem Kontext des Zerfalls der amerikanischen Gesellschaft lohnt es sich in meinen Augen einen Blick auf die vielen alltäglichen kleinen Verbrechen zu werfen. Ich mag die Sprache der Bücher. Die drei weiteren Bände liegen schon hier.
›Diese schönen Tage‹
Vielleicht kannst Du Dich daran erinnern, dass ich Dir einmal erzählt habe, dass ich gerne lokale Literatur mit in den Urlaub nehme. In die Cotswolds nahm ich nicht nur John Donnes Gedichte ›Alchimie der Liebe‹ sondern auch ›Die toten Professoren‹ von Robert Robinson mit, das von einem Krimi rund um tote Dons in Oxford handelt. Und nach ein wenig Suche fand ich diesen wunderschönen zweisprachigen Gedichtband der umbrischen Dichterin Patrizia Cavalli. Ihr liebevoller Umgang mit der italienischen Sprache wird besonders gelobt, in Italien war sie eine Berühmtheit.
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›Diese schönen Tage‹ ist auch ein passender Titel für den nun schon wieder fast drei Wochen zurückliegenden Urlaub. Alles war schön! Die Berge waren es, denn in Umbrien ragen die Berge der Apenninen besonders weit in den klaren blauen Himmel, der sich unterbrochen von einigen liebevoll am Himmel sich knäuelnden Schäfchenwolken eine Woche lang ununterbrochen über uns zwei Reisenden wölbte. Wir haben keine hohen Berge bestiegen, aber an vielen Stellen Abstecher in die schöne Bergwelt gemacht und kamen dem Monte Vettore erstaunlich nahe, wo der Wald an die, wie Samt glänzende Bergwelt anzubranden scheint.
Wir haben viele der kleinen und einsamen Bergdörfer besucht und besichtigt, teils in großer Hitze, Ende September waren es mittags noch 33 Grad. Wir durften zweimal den Gotthard-Pass überqueren, konnten im Bellavista Boutique Hotel e Ristorante in Brunate wunderschön in einer Art Aussichtskanzel über dem Comer See übernachten und abends hervorragend essen, wir sahen, und das hätte Dich begeistert und berührt, das Grab des heiligen Franziskus in Assisi, bewunderten seine soo oft geflickte Kutte, lasen die 1200 Jahre alte Gründungsurkunde des Franziskanerordens. Welche Dokumente von uns werden wohl diese Spanne überdauern, was meinst Du?
Wir haben viel Käse gegessen, ausgezeichneten Wein aus Umbrien und der nahe liegenden Toskana getrunken, in ruhigen Ecken gesessen, sind an Seen und Flüssen entlang spaziert.
Es war eine wahre Wonne und hätte Dir bestimmt auch gut gefallen. Ein wirklich schöner Urlaub der länger zu dauern schien, als nur eine Woche.
Danke, dass Du Dir die Zeit genommen hast!
Ich wünsche Dir schöne Tage, eine bleibende gute Gesundheit und für die kommenden Woche alles Gute.
Und wie John Irving schrieb »Bleib weg von offenen Fenstern!«.
Dein dankbarer Neffe Thomas
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Quellen:
Regen im Herbst
Hesse, Hermann : Stufen - Ausgewählte Gedichte / Gedichte 1895 bis 1941. Bibliothek Suhrkamp 342. Suhrkamp; Frankfurt am Main 1985. Seite 215
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»Nass- nass-nass- alles war nass. Die Blätter der Maispflanzen benetzten mich, das nasse Gras weichte meine Rindslederstiefel fast völlig durch, die Bäume warfen mir die gesammelten Regentropfen auf den Kopf, und bald begann der erbarmungslose Regen von neuem und trieb mich ins Haus. Wann werden wir wieder zu den fernen Bergen spazieren und in die tiefen Wälder eintauchen und mehr Lobelien am Flussufer pflücken können? Wahrscheinlich ist der Pfad, den wir benutzen, jetzt überflutet. Wie abweisend ist die Natur im Regen!«
Peabody Hawthorne, Sophia; Hawthorne, Nathaniel, Alexander Pechmann (Übers.), und Peter Handke (Vorwort). Das Paradies der kleinen Dinge: ein gemeinsames Tagebuch. 2. Auflage. Salzburg Wien: Jung und Jung, 2014. Seite 74
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»Der Herbst war eine Freudenzeit. (...) Nach dem langen, heißen Sommer waren die ersten kühlen Tage von einer reinen und strahlenden Schönheit. Goldrute wuchs am Rande der staubigen Feldwege, und das Zuckerrohr war reif und schimmerte purpurn.«
McCullers, Carson; Schnack, Elisabeth (Übers.) : Die Ballade vom traurigen Café. Diogenes Bibliothek. Diogenes Verlag, Zürich 2005. Seite 104f
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»Er hat sich ins Bett gelegt und ist nicht mehr aufgestanden: Durchs Fenster sieht er die Äste des Nußbaums, die Blätter, die die Schreiben streifen, werden gelb, rollen sich ein, der Wind reißt sie eines nach dem anderen herunter, zwischen den wenigen, die noch übrig sind, erscheint grau der Herbsthimmel. Morgens fließt der Nebel in langsamen Tropfen die Zweige entlang, dazwischen erkennt man das Haus, das mit seiner fensterlosen Mauer den Garten abschließt.«
Loy, Rosetta; Pflug Maja (Übers.) : Straßen aus Staub. 2. Aufl. Übersetzt von Maja Pflug. Arche Verlag, Zürich 1989. Seite 17
Eco, Umberto. _Baudolino: Roman_. Nachdr. Übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser, 2001.
Ishiguro, Kazuo : Was vom Tage übrig blieb. Blessing Verlag, Verlagsgruppe Random House. München, 2017.
Ruiz Zafón, Carlos. _Der Schatten des Windes_. 1. Auflage. Übersetzt von Peter Schwaar. Insel-Verlag, 2003.
Cavalli, Patrizia, und Piero Salabè. _Diese schönen Tage: ausgewählte Gedichte 1974 - 2006 ; zweisprachige Ausgabe_. Edition Lyrik Kabinett, Bd. 13. Hanser, 2009.