Briefe an Irene XIII - August 2025
Aug 11, 2025 11:33 am
Wuppertal, 11. August 2025
Liebe Irene,
wie geht es Dir? Hast Du den Sommer bisher genossen? Vielen Menschen in meiner Umgebung war er ja zu kalt und zu regnerisch, ich gebe aber gerne zu, es zu genießen, wenn der Himmel düster und schwer grau verhangen ist und diese Tagesdämmerung mir Zeit und Muße gibt, mich nach innen zu wenden.
Trotzdem genieße ich die Freuden schönen Wetters, das uns ja im vergangenen Monat wunderschöne Himmelsbilder schenkte, zu denen ich immer aufmerksam nach oben schaute. Wind und Wolken boten ein interessantes Schauspiel. Seitdem ich mich intensiver mit Wolken beschäftige und mit ihrer Klassifizierung und seitdem ich in der Literatur mehr darauf achte, wie die Wolke als sprachliches Stilmittel verwendet wird, fühle ich mich reicher. Der Himmel trägt so viel Poesie. Wahrscheinlich ist dies mit den meisten Dingen so, denen wir mehr Aufmerksamkeit widmen. Und tatsächlich konnte ich für meinen Zettelkasten ein oder zwei schöne Zitate aufschreiben, die bei Gelegenheit auch ihren Weg in mein kleines Essay »Die gemütliche Wolke" finden werden.
Das schönste Zitat ist jenes, welches User\*in Xaro68 bei Bluesky aufschrieb: »Die Wolken schweben vorbei, wie Gedanken, die jemand vergessen hat.« Das ist ja ebenfalls ein sehr schöner Gedanke – oder eine schöne Wolke und ich hoffe, sie und die Inspiration stehen noch eine Weile gemütlich über mir. Gedanken, die jemand vergessen hat. Auch die schon im letzten Newsletter erwähnte Sophia Amelia Peabody (verheiratete Hawthorne) blickte dem Anschein nach häufig in den Himmel hinauf. Sie notierte am 11. Dezember 1842, einem Sonntagmorgen in ihr Tagebuch: »Weiche zarte Wolken von mattem Purpur verschönert«. Wie stark der blaue, wolkenlose Himmel als schön und bereichernd empfunden wurde, zeigte schon ihr Eintrag aus dem September des gleichen Jahres: »Dienstags begann der Tag heiter, ohne eine Wolke am Himmel.«
Du weißt ja, wie ich angesichts der überall in Europa nun stattfindenden Waldbrände über einen wolkenlosen Himmel denke. Nicht besonders gut. Dabei müssen wir im Garten einen kapitalen Schaden hinnehmen. Die Tomaten, die Anfang Juli noch so vielversprechend aussahen sind im Beet umgekippt und der Kontakt zum Boden und der lang anhaltende Regen haben leider für einen massiven Krautfäule-Befall gesorgt. Mal schauen, ob wir die grünen Tomaten noch nachreifen können.
Am Pflaumenbaum sind die Zwetschgen reif, also wird es, so hoffe ich, diese Woche einmal Pflaumenknödel und vielleicht auch Zwetschgenkuchen geben. Die im Frühjahr radikal zurückgeschnittene Rose hat sich prächtig entwickelt und der starke Schnitt sorgt jetzt vielleicht dafür, dass auch im unteren Bereich der Wand (siehe den Beitrag im Blog hier https://cronhill.de/blog/rambling-rector.html) hunderte weiße Blüten im nächsten Jahr heraussprießen. Die Rambling Rector hat dabei seit dem Rückschnitt aus dem untersten Ast einen Trieb herausgebracht, der nun schon in den wenigen Monaten 5 Meter lang gewachsen ist. In diesem Jahr.
Liebe Irene, Mutters Haus ist nun abgewickelt und gänzlich leer geräumt. Wie lange meine Eltern für das Haus gespart, auf was sie alles verzichtet haben und was bleibt, sind nur Erinnerungen. Ein paar Fotos, ein paar Bücher, ein paar liebgewonnene Gegenstände. Ich habe die zwei emaillierten Schalen an mich genommen, die Du einmal selbst gestaltet hast. Wenn ich sie betrachte, erinnern sie mich an Dich. Und wie sagte die Figur Dolores in der zweiten Staffel der Serie Westworld, »Du lebst, so lange sich jemand an Dich erinnert.«
Und mich an Dich zu erinnern, das ist und war ja eine wichtige Motivation für mich, diese Briefe zu schreiben. Ralph Waldo Emerson hat etwas sehr Schönes zum Briefeschreiben notiert. Denn das Schreiben selbst und die Erfahrung damit, seien der beste Schlüssel zu ihrem Modus. Beim Schreiben, so hat er es in sein Tagebuch notiert, würden wir uns zum Denken aufschwingen und zu einer warmen Ausdruckskraft finden, die uns ›nichts‹ an Mühe kosten würde und in ihrer Leichtigkeit unendlich angewandt und fortgesetzt werden könnte. »Der Reichtum des Geistes gleicht hierin, im Sehen, einem Spiegel, der nie ermüdet oder erschöpft ist von der Menge der reflektierten Gegenstände. Man kann ihn einmal um die Welt tragen, er ist stets bereit & vollkommen für neue Millionen.«
Vielleicht ist die Lust auf das Schreiben von Briefen, wie es Autorinnen wie Bettine von Arnim (1785 - 1859), Rahel Varnhagen von Ense (1771 – 1833), der Komponist und Dirigent Gustav Mahler (1860 – 1911) und so viele andere betrieben haben, so zu verstehen. Dabei ist »reflektieren« ein bedeutsames Wort, weil es »widerspiegeln« und »nachdenken« beinhaltet. So wie Lucy in Edward Morgan Forsters »Zimmer mit Aussicht« auf ihr Zimmer geht, weil sie Briefe schreiben muss, hier aber nur die Zeit nutzt, um über ihr Handeln und über die Liebe nachzudenken. Das hierbei ein sehr schöner Gedanke hervortritt, nämlich »Liebe, die das Wirklichste ist, dem wir jemals begegnen werden«, ist schon fast nebensächlich. Emerson schrieb an anderer Stelle: »Schreib, damit dich dich erkenne. Der Stil betrügt dich, wie deine Augen. An ihm spüren wir sofort, ob der Schriftsteller seine Fakten und Gedanken fest im Griff hat, in dem Augenblick nur dafür lebt, uns einen neuen Besitz darbieten kann (...)« Und Rahel Varnhagen von Ense notierte Donnerstag, den 19. Mai 1808 in einem Brief an ihren späteren Mann August »Manchmal gelingt es mir, was ich nicht sagen kann, zu schreiben, und auch umgekehrt.«
Ist das nicht eigentlich seltsam, dass es uns oft leichter fällt, etwas zu schreiben, als es zu sagen. Und manchmal eben auch leichter fällt etwas zu sagen, als es zu schreiben? Persönliche Worte haben geschrieben oftmals mehr Gewicht, als nur gesprochen. Wie oft lässt sich unterschiedlich betont ein »Du bist wunderbar!« ausrufen, als tief empfundener Dank oder nur als spontaner glücklicher Ausruf. im Brief geschrieben mag es wie eine Liebeserklärung wirken, wie ein unaufgeforderter Kuss.
Dabei gelingt es uns im Brief oft besser, was der große Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt in der ›Cultur der Renaissance in Italien‹ als »Den Stil auch in der Not zu wahren« beschrieb, und zwar als ein Gebot der guten Lebensart. Wobei »gute Lebensart« für unsere modernen Ohren wirklich wie etwas aus fernen Zeiten klingen mag.
Selbst die überströmendsten Gefühle werden in der Form eines Briefes zu einem harmonisch und langsam fließenden Gewässer transformiert. Denn beim Schreiben müssen wir genau sein und klar und irgendwie uns selbst und dem anderen gegenüber korrekt und verbindlich. Vor allem aber zugewandt, was in meinen Augen den Kern des Briefeschreibens ausmacht. Burckhardt notierte weiter, es wären schon im 15. Jahrhundert eine ganze Reihe von Anweisungen und Formularen zum lateinischen Briefeschreiben erschienen, deren Masse in den Bibliotheken noch heute Erstaunen erregen würde.
Herrmann Burger, ein Schweizer Schriftsteller und Germanist schrieb in einem der interessantesten Bücher über das Schreiben, das ich bisher gelesen habe, nämlich in »Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben«, einer Erweiterung des von Kleistschen Gedankens »Über die allmähliche Verfestigung der Gedanken beim Reden«, dass Schreiben eine Lebenshaltung sei. Das »Schreibend-Sein« sei eine Stilform, der Realität zu begegnen.
Wir treten dem Spiegel, in dem Realität und Leben uns begegnen entgegen.
Darüber werde ich im nächsten Newsletter ein wenig vertiefender nachdenken. Und dann geht es im September schon für eine Woche nach Italien, worauf ich mich ganz außerordentlich freue.
Für den Garten ist es nun bereits zu warm. Die nächsten Tage sollen sehr heiß werden. Pass bitte auf Dich auf!
Ich blicke hinaus.
»Der Himmel war wolkenlos. Die Atmosphäre war nach dem Regen von einer bezaubernden Reinheit.«
Robert Louis Stevenson
Dir eine schöne Woche, bleib gesund, überlaste Dich nicht und lass Dich nicht so sehr von den ganzen Umständen fordern. Das Leben besteht aus mehr als reinem Funktionieren, schön ist es, wenn wir Zeit für uns finden, in der wir einfach sind.
Bis auf bald,
Dein Thomas
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Quellen:
Die gemütliche Wolke
https://cronhill.de/sachstandsberichte/die-gemuetliche-wolke/
Xaro68
»Die Wolken schweben vorbei, wie Gedanken, die jemand vergessen hat.«
https://bsky.app/profile/xaro68.bsky.social/post/3lvqkhj5tuc2h, User\*in https://bsky.app/profile/xaro68.bsky.social
Peabody Hawthorne, Sophia; Hawthorne, Nathaniel, Alexander Pechmann (Übers.), und Peter Handke (Vorwort). Das Paradies der kleinen Dinge: ein gemeinsames Tagebuch. 2. Auflage. Salzburg Wien: Jung und Jung, 2014.
Westworld, Serie
https://www.hbo.com/westworld
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Ralph Waldo Emerson: Tagebücher
»Für »Inspiration«: Die Erfahrung des Briefschreibens ist einer der besten Schlüssel zu ihrem Modus. Wenn wir seit längerer Zeit keine Gedankenfülle mehr besitzen, die früher ein Tagebuch zu <einem Luxus› einer Freude ebenso wie zu einer Notwendigkeit machte, und zur Überzeugung gelangt sind, dass ein Bild oder eine geglückte Redewendung beim Verfassen eines Briefes unserm Geheiß nicht mehr untersteht, stellen wir fest, dass wir uns aufschwingen zum Denken und zu einer warmherzigen Ausdruckskraft, die uns ‹nichts› keine Mühe kostet, und es scheint, dass diese Leichtigkeit unendlich angewandt und fortgesetzt werden könnte. Der Reichtum des Geistes gleicht hierin, im Sehen, einem Spiegel, der nie ermüdet oder erschöpft ist von der Menge der reflektierten Gegenstände. Man kann ihn einmal um die Welt tragen, er ist stets bereit & vollkommen für neue Millionen. So auch der Geist Shakespeares.«
Seite 850f
»Schreib, damit dich dich erkenne. Der Stil betrügt dich, wie deine Augen. An ihm spüren wir sofort, ob der Schriftsteller seine Fakten und Gedanken fest im Griff hat, in dem Augenblick nur dafür lebt, uns einen neuen Besitz darbieten kann – oder ob sein Auge entschuldigend, herablassend dem Leser zugewandt ist. Die Beherrschung der Gedanken steht immer im Verhältnis zur Missachtung Deiner Leser. Wer die Wahrheit klar erkennt, hat bei den Worten keine Wahl. Das versorgt ihn mit dem besten Wort.«
Seite 863
Emerson, Ralph Waldo; Brôcan, Jürgen (Übers.) : Tagebücher: 1819 - 1877. Erste Auflage. Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin, 2022.
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Edward Morgan Forster: Zimmer mit Aussicht
»Sie sagte zu Cecil: »Ich komme nicht mit rein zum Tee - sag Mutter das -, ich muß ein paar Briefe schreiben«, und ging auf ihr Zimmer. Dort bereitete sie sich aufs Handeln vor. Liebe empfunden und erwidert, Liebe, die der Leib fordert und die das Herz verklärt hat, Liebe, die das Wirklichste ist, dem wir jemals begegnen werden - diese Liebe tauchte jetzt als der Feind der Welt wieder auf, und sie mußte sie unterdrücken. Sie schickte nach Miss Bartlett. Bei dem Ringen ging es nicht um Liebe oder Pflicht. Vielleicht gibt es diesen Konflikt überhaupt nicht. Es ging vielmehr um eine Auseinandersetzung zwischen Wirklichkeit und Schein, und Lucys erste Regung war, sich selbst eine Niederlage beizubringen.«
Forster, Edward Morgan : Zimmer mit Aussicht - Eine Liebesgeschichte. Übersetzt von Werner Peterich. Fischer TaschenBibliothek. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2002, Seite 311f
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»Manchmal gelingt es mir, was ich nicht sagen kann, zu schreiben, und auch umgekehrt.«
Varnhagen von Ense, Rahel, Kemp, Friedhelm (Hrsg.) : Briefwechsel mit August Varnhagen von Ense. Bd. 9. Lebensläufe. Kösel Verlag, München 1967.
Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Bertelsmann Lesering, 1956. S. 518
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Absender:
Thomas Schürmann
Schorfer Straße 5a
42349 Wuppertal
+49 202 705 3745
thomas@cronhill.de
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