Briefe an Irene : November 2024
Nov 11, 2024 12:48 pm
Wuppertal, Montag, 11. November 2024
Liebe Irene,
wie geht es Dir? Wie ist das Wetter im Sauerland? Kriecht Dir der herbstlich feuchte Nebel auch so kalt unter Deine Kleider? Auch wenn es letzte Woche mit dem mulmigen Nebel losging, Petrus bescherte uns im letzten Monat doch noch ein paar wirklich sehr schöne Tage, an denen man gemütlich mit dem Laubbesen das reichlich gefallene Laub zu hübschen Haufen zusammenschieben konnte. Währenddessen schob sich am sumpfschwertlilienblauen* Himmel eine gemütliche Wolke vorüber. Seitdem ich »Perfect Days« von Wim Wenders geschaut habe, schaue ich täglich öfter in den Himmel, der uns mit seiner blauen Tiefe immer wieder ein unerfüllbares Freiheitsversprechen zu geben scheint.
Wie ich Dir ja schon häufig erzählt habe, fahren wir in jedem Jahr an Allerheiligen nach Schloss Dyck im Rheinland. Mit dabei eine befreundete Familie, sie haben auch zwei gleichaltrige Kinder und dieses Ritual hält nun schon über zwanzig Jahre. Es ist jedes mal ein Genuss durch den Park zu spazieren. Und es hat eine Art durch diesen Park zu spazieren, denn im Schlosspark gibt es immer etwas zu erleben und zu sehen, weil sich der Park in jedem Jahr wandelt. Neue Bäume sind gepflanzt, überalterte entfernt; aus den Lücken entstehen neue Sichtachsen und mit den neuen Sichtachsen auch neue Anziehungen. Eine Kunst des englischen Gärtnerns, uns immer ein Ziel zu zeigen, dass wir aber nie auf geradem Wege erreichen. Wie schrieb William Hogarth? »Das Auge hat diese Art von Vergnügen an gewundenen Spaziergängen, an gewundenen Flüssen und an allen Arten von Objekten, deren Formen, wie wir im Folgenden sehen werden, hauptsächlich aus dem bestehen, was ich als die wogenden und schlängelnden Linien bezeichne.« Wir können nicht sehen, wohin wir gehen. So bleibt die Anziehungskraft auf lange Zeit und Dauer erhalten. Und sind wir einmal dort, bei der schönen Brücke, dem kleinen Tempel oder dem prächtigen altersgekrönten Baummethusalem, da breitet sich mit dem Blick zurück schon wieder eine neue Szenerie aus. Und wir sind immer noch im selben Garten — und im selben Leben. Und so rascheln unsere Füße durch das gefallene Laub, das sich wie gemalt rund um die Bäume in feinen Kreisen auf den Boden gestreut hat, grellgelbes des Tulpenbaums, rötliches und herbstlich gelbes Laub von all den verschiedenen Ahornbäumen. Wie zum weichen Bette hingestreut breiten sich die fahlen schwefelgelben Nadeln der Kiefern vor uns aus; der Blick schweift nach vorne in die Szenerien, die manchmal Gemälden zu gleichen scheinen, deren Teil wir selbst sind. Vielleicht erfüllt es uns deswegen so sehr. Wir lesen die Landschaft mit unseren Füßen.
Der Tag war schnell zu Ende. Und wird es jetzt nicht schon soo früh dunkel? Bald kommen die Tage, an denen wir im Dunkeln aus dem Haus gehen und im Dunkeln zurückkommen. Ich erinnere mich wie Du früher zu Deinen Familien gefahren bist, manchmal warst Du fast eine Stunde morgens und abends unterwegs. Und kamst im Winter immer im Dunkeln zurück. Ich bin so froh Dir schreiben zu können, dass das Dunkel für mich einen Teil seines Schrecken mehr und mehr verloren hat. Das besonders daran liegen – Du kannst es Dir sicherlich schon denken – dass ich gerade ein sehr schönes Buch zum Thema Dunkel lese. Es heißt »Lob des Schattens« und wurde 1933 von dem japanischen Schriftsteller Tanizaki Junʼichirō verfasst. Er schrieb es als einen Versuch, einen Teil der Ästhetik einer Epoche in Worte zu fassen, und das eher in einer erzählerischen Weise und nicht in der Art einer ästhetischen Theorie. Ich will es schon lange lesen, denn in diesem Buch suche ich dieses schöne Zitat: »Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens.« Und ich habe es tatsächlich gefunden. Es steht auf Seite 33. Es geht darum, wie Menschen, die mit einem bestimmten Umstand leben mussten, angefangen haben, diese Umstände als schön zu betrachten. In diesem Fall geht es darum, wie japanische Häuser traditionell gebaut sind, mehr mit einem Schirm, der das Licht abhält, als mit einem Hut gegen den Regen, wie in Europa. Traditionelle japanische Wohnhäuser der Edo-Zeit (1603 bis 1868) haben auch nach außen die traditionellen Shōji, das sind Holzsprossenwände, die man ursprünglich mit dem sehr reißfesten handgeschöpften Washi-Papier (aus dem Gampi-Papierbaum, dem Papiermaulbeerbaum oder dem Yuu) bespannte. Da Regen das Papier nässen würde, ragt nicht nur das Dach wie eine dunkle Glocke über die gesamten Innenräume, zwischen Außenwänden und Garten liegt noch die Engawa, ein Umgang oder eine schmale Terrasse, die den Garten mit dem Haus verbindet. Wie schreibt Tanizaki? »Wir hingegen bringen auf der Außenseite der Zimmer, in die die Sonnenstrahlen ohnehin schon mit Mühe eindringen, zusätzlich noch Schutzdächer oder Veranden an, um das Licht noch mehr fernzuhalten und um zu bewirken, daß sich nur der diffuse Widerschein vom Garten her durch die shoji hindurch ins Innere stehlen kann. So besteht das ästhetische Element unserer Räume in nichts anderem als eben in dieser mittelbaren, abgestumpften Lichtwirkung.« (Seite 34) Und aus der Praxis des mit-diesen-Umständen-leben-müssen, der täglichen Praxis, entstand nach Tanizaki eine eigene Ästhetik, eine eigene Vorliebe für Schatten, und er fasst am Ende zusammen: »so gibt es, glaube ich, ohne Schattenwirkung keine Schönheit.« (S. 54)
In den Innenräumen herrscht infolgedessen ein Dämmerlicht, dass sich genau zwischen Hell und Dunkel bewegt, wir würden vielleicht Zwielicht sagen, Tanizaki nennt es Halbdunkel, so dass »sich nur der diffuse Widerschein vom Garten her durch die »shoji« hindurch ins Innere stehlen kann.« In diesem Licht entsteht in den Räumen mehr Tiefe und eindrücklich beschreibt Tanizaki die Wirkung, die dieses Licht und der Umstand einer dunklen Lackschüssel, auf den zum Essen gereichten Reis hat. »Wer jenen frischgekochten , reinweißen Reis sieht, wie er unter dem rasch erhobenen Deckel hervor warmen Dampf aufsteigen läßt, wie er in dem schwarzen Gefäß aufgehäuft daliegt und wie jedes Korn gleich einer Perle glänzt, der wird, sofern er ein Japaner ist, so recht das Ehrfurchtsgebietende des Reises spüren.« (S. 31)
Tanzizaki kann sich auch an der Wirkung der Shoji nicht satt sehen, es strahle eine Art Wärme aus, die unser Herz beruhigt. Das Papier ist auch nicht gleichmäßig reinweiß, es durchzieht ein »vertieftes, umwölktes Schimmern«, und dieses Wolkige wird auch in anderen Bereichen vorgezogen, denn Glanz ist dem traditionellen Japaner eher fremd, vorgezogen wird unpolierter »Handglanz« (nare), eine gewisse Abgenütztheit, die durch den täglichen Gebrauch entsteht. Diese Wolkigkeit, dieses Zwielicht auch in Dingen des täglichen Lebens, besteht ebenso – laut Tanizaki – in der Betrachtung einer Nische in einem Tempel, wo sich im Zusammenspiel zwischen alten Wandbildern und düsteren Wandnischen eine Schattenwirkung ergibt, deren Undeutlichkeit akzeptiert ist. Über die Bunraku-Puppentheater schreibt er, dass dort noch lange nach Anbruch der Meiji-Zeit eine Beleuchtung herrschte, die eine weit nuancenreichere Atmosphäre erzeugt habe, als sie 1933 der Fall gewesen sei.
Eine nuancenreichere Atmosphäre: Wir sind es ja gewohnt, unsere Zimmer bis in den letzten Winkel gründlich auszuleuchten, dabei muss ich daran denken, wann ich das letzte Mal ein Zimmer nur mit Kerzen beleuchtet gesehen oder erlebt habe. Dabei fällt mir ein Film ein, den ich zum letzten Mal vor etwa 20 Jahren gesehen haben muss, es ist »Barry Lyndon« von Stanley Kubrick. Nicht nur, dass der Film sich auf interessante visuelle und filmische Art und Weise mit Gemälden des 18. Jahrhunderts beschäftigt und diese filmisch bewegt in Szene setzt, er enthält auch einzigartige Aufnahmen, die nur bei Kerzenlicht gefilmt wurden. Zwar hatten die am Set verwendeten Kerzen drei Dochte!, um mehr und helleres Licht zu verbreiten, mit dem eingesetzten Zeiss Planar Blende 0.7 gelang es aber, auf zusätzliche Beleuchtung verzichten zu können. Und so entstanden Aufnahmen, die tatsächlich keine klar abgegrenzten Flächen zeigen, sondern es entsteht eine Atmosphäre, in der einzelne Farben Farben eine Vielzahl von zusätzlichen Nuancen entwickelten (tatsächlich hatte Kubrick herausgefunden, dass die historischen Kostüme im Film nur dann die auf Gemälden überlieferten Farben zeigten, wenn sie bei Kerzenlicht gefilmt wurden). Dies zu filmen war nur mit dem raren Zeiss Planar Blende 0.7 (Auflage 10 Stück) möglich, einem Objektiv, das seine Blende für das wenige Licht ganz besonders weit aufmacht.
Und vielleicht verhält es sich mit dem Sehen ganz ähnlich wie mit diesem Objektiv. Für die nuancenreiche Schönheit im Schatten müssen wir unsere Augen – die Iris – ganz besonders weit öffnen. Und nur wenn wir unsere Augen weit öffnen, nur dann sind wir in der Lage, das wenige, nuancenreiche Licht der Dinge, Ereignisse oder Menschen im Schatten auf ganz besondere Weise in unser Herz zu lassen. Wie schrieb Tanizaki? Laut ihm liegt die Schönheit nicht in der grellen Beleuchtung einer Sache, sondern in der Aufmerksamkeit, die wir ihrem sanften Schimmern im Schatten zuwenden.
»Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens.«
Über dieses Zitat, was so einfach und schön ist wie ein Haiku der Edo-Zeit, habe ich schon oft und lange nachgedacht, weil in ihm Schönheit und das tägliche Leben vereint sind. Für mich bedeutet es mehr, als mich nur unveränderlichen Lebensumständen anzupassen. Für mich bedeutet es auch, den einfachen, alltäglichen Dingen – zum Beispiel dem Putzen oder dem Laubfegen – den im Schatten liegenden Tätigkeiten meines Lebens meine Liebe und Aufmerksamkeit zu widmen. Der Art und Weise, wie ich den Stil anfasse und seine Textur, seinen »Handglanz« spüre, wie sich meine Schulter nach hinten, der Körper dem Laub zu wendend nach vorne beugt und ich sanft mit dem Besen über den Boden streiche, eben nur so viel, dass das Laub gekehrt, die Erde aber nicht gekratzt wird. Strich für Strich - und ich entspanne mich. Das klingt jetzt fast poetisch, meinst Du nicht auch. Wir lassen es in so vielen Momenten unseres Lebens an Aufmerksamkeit missen, an Zuwendung und Hingabe. Und ich glaube, dies bedeutet es.
Ich freue mich, dass Du Dir die Zeit zum Lesen genommen hast. Danke!
Hab schöne Tage und lass es Dir gutgehen!
Dein Thomas
--
Quellen:
Hogarth, William; Davis Charles (Editor, Einführung) : The Analysis of Beauty (London: Printed by John Reeves for the Author, 1753), bearbeitete Version 2010
http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2010/1217/
»Es war gegen Mitternacht an einem milden Aprilabend. Der Himmel hatte Farben wie die blauen Sumpfschwertlilien, und der Mond schien klar und hell.«
Aus: McCullers, Carson; Schnack, Elisabeth (Übers.) : Die Ballade vom traurigen Café. Diogenes Bibliothek. Diogenes Verlag, Zürich 2005; Seite 11.
Zum Spazierengehen
»Was in anderen Gegenden der Erde die Ungunst des Klimas und des Terrains verbietet, wurde in Europa zu einer Artistik kultiviert, die - sehr zur Verwunderung der Amerikaner etwa - Sonntag für Sonntag im familiären Kollektiv in immer neuen Varianten demonstriert und verfeinert wird. Es wäre ein Wunder, wenn die Künste von dieser Bewegungsart nicht infiziert wären: es wird gewandert und gegangen, geklettert und gelaufen in der europäischen Musik, Malerei und Literatur, daß es eine Art hat, (...) «
Oellers, Norbert (Hrsg) : Interpretationen - Gedichte von Friedrich Schiller; Philip Reclam jun.; Stuttgart 1996; Seite 157.
https://archive.org/details/trent_0116404250767/ (Besucht: 10. März 2024)
Lob des Schattens
»Man kann nicht sagen, daß wie ganz allgemein glänzende Dinge ablehnen; doch einem seichten, hellen Glanz ziehen wir ein vertieftes, umwölktes Schimmern vor.« (Seite 22)
»Wer jenen frischgekochten , reinweißen Reis sieht, wie er unter dem rasch erhobenen Deckel hervor warmen Dampf aufsteigen läßt, wie er in dem schwarzen Gefäß aufgehäuft daliegt und wie jedes Korn gleich einer Perle glänzt, der wird, sofern er ein Japaner ist, so recht das Ehrfurchtsgebietende des Reises spüren.« (Seite 31)
»Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens.« Seite 33
»so gibt es, glaube ich, ohne Schattenwirkung keine Schönheit.« (S. 54)
Alle aus: Tanizaki, Junʼichirō; Kloppenstein, Eduard (Übers.) : Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik. Manesse-Bücherei Bd. 4. Manesse Verlag, 5. Auflage, Zürich 1990.
Barry Lyndon (1975)
Film von Stanley Kubrick
https://de.wikipedia.org/wiki/Barry_Lyndon
Der Sauerstoffverbrauch der Kerzen war so hoch, dass die Innenräume alle zwanzig Minuten gelüftet werden mussten.
Filmausschnitt
https://www.youtube.com/watch?v=YQE73GDo4So
Aus den Dreharbeiten
https://www.criterion.com/current/posts/5059-kubrick-s-candle-tricks-in-barry-lyndon?srsltid=AfmBOooDsR2dd6KAoOzbhrKStqN57gBbX70lOVQ40Uik3Qaed6yzpxyU
Zun den Linsen
https://www.zeiss.de/consumer-products/home/content/newsroom/news-uebersicht/2022/zeiss-planar-0-7-50.html
--
Absender:
Thomas Schürmann
Schorfer Straße 5a
42349 Wuppertal
+49 202 705 3745