Briefe an Irene XII - Juli 2025
Jul 14, 2025 1:37 pm
Wuppertal, 14. Juli 2025
Liebe Irene,
wie geht es Dir an diesem schönen Montag und am Anfang der Woche? Wie jeder Monat, wie jede Woche oder jedes Jahr fängt immer alles mit einem Tag beziehungsweise Moment an. Leider hatte Hermann Hesse nicht in jeder Beziehung recht, dass allem Anfang ein Zauber innewohnt. Manchmal sind Wochenanfänge oder die ersten Tage eines Monats einfach schon deshalb anstrengend, weil man sieht, was alles vor einem liegt.
Denkst Du nicht auch, dass es manchmal gut ist, wenn Du nicht weißt, was alles vor Dir liegt. Du würdest am liebsten überhaupt nicht anfangen. (Zu den Gründen später)
Vielleicht hat mich ja auch die Juli Schwermut erwischt, über die Stefan George in seinem gleichnamigen Gedicht schreibt: »Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied«. Es ist ja auch im Garten unübersehbar, die Mittsommerwende ist vorbei. Die Himbeeren sind alle geerntet, an den mittlerweile brusthoch aufragenden Blaubeerbüschen reifen noch die Reste. Die prächtigen Rosen (Ispahan und Rambling Rector) sind jetzt auch verblüht und alles was von ihnen bleibt ist die verblassende Erinnerung an ihren hellen Schimmer im Abendlicht. Dafür recken bereits die kleinen Blütenköpfchen der Montbretien ihre Hälse weit der Sonne entgegen, der Blutweiderich (Lythrium) eifert mit den dicken Blütenknäueln der Hortensien um die ›wer hat den leuchtendsten Pinkrotton‹-Wette. So langsam werden die Knospen der Herbstanemone weiß. Auch die Blüte des Frauenmantels (Alchmilla mollis) neigt sich nun dem Ende zu. Noch vor ein paar Wochen stand ich im Garten und blickte auf sagenhaft weiche, grünliche Wolken, die die Hortensien- und Geraniumblüten umschwebten. Und in dem Moment hatte ich einen kleinen Geistesblitz, den bestimmt schon viele und schlauere Gärtner vor mir hatten. Ich dachte daran, was diese ungebärdigen fluffigen Wolken aus winzigkleinen lindgründen Blüten so weich und lieblich macht und im Adjektiv lindgrün steckt nun alles darin: die Weichheit, das Sanfte und die schöne und vor allem vornehm gutgelaunte Zurückhaltung, die das linde Grün mit sich bringt. Über Ellerys Lupinengarten schrieb Ralph Waldo Emerson einmal, er sein ein Salon voller Schönheiten in Wollmusselin. Nun, ich meine, Frauenmantel kann man nicht als Einzelblume pflanzen - nein - es sollten sich wenigstens einige gemütliche Wolken über den ganzen Garten verteilen. Ich hätte in sie hineinsinken und alles vergessen können.
Ich bin ja nicht der Erste, der sich über den Monat Juli und die in ihm liegende Naturstimmung Gedanken macht. Das Licht scheint viel weicher zu sein. (Ob ich mal die Fenster putzen sollte?) Viele klügere Menschen haben sich bereits vor mir Gedanken gemacht und einen dieser Gedanken habe ich am Sonntag in dem schönen Büchlein »Das Paradies der kleinen Dinge« gelesen und mir erarbeitet. Du erinnerst Dich bestimmt, dass ich interessante Gedanken und Zitate in meinen Zettelkasten übernehme und dieses schmale bei Jung und Jung erschienene Büchlein ist eine wahre Schatzkammer voller liebevoller Gedanken, die sich im Wesentlichen um die Natur, um den Garten und nicht zuletzt um diese tiefe Liebe drehen, die die beiden einander zugewandten Tagebuchschreiber Sophia Amelia Hawthorne Peabody und Nathaniel Hawthorne verband. Was für eine schöne Idee gemeinsam ein Natur- und Gartentagebuch zu schreiben. Mein Zettelkasten hat diesem Band, und ich bin erst bis Seite 85 gekommen, bereits einige schöne Zitate zu verdanken, die mit schönen Überschriften betitelt sind: »Konklave der Kardinalsblumen«, »Ein Fluss, der zu faul ist, sich sauber zu halten«, »Das liebste Wesen, das je Leben verströmte«, »Es gibt keine reinere und unschuldigere Form der Freude als das Gärtnern«, »Der Kürbis weckt Wärme und Behaglichkeit«, »Eine duftende weiße Teichrose in süßer Prüderie« und noch viele mehr. Mit dem Buch habe ich wieder einmal über die Bedeutung der Farbe rot in der Natur nachgedacht, denn wo Nathaniel Hawthorne das Rot der Lobelien prächtig und genussvoll findet, ihr den Titel Blume des Denkens und Fühlens zuspricht und sich ihr Farbton tief in die Herzen ihrer Betrachter wurzeln würde, nennt Sōseki Natsume in seinem Graskissen-Buch die Versunkenheit von Kamelienblüten abartig, wie das Blut eines Gefangenen, an dem das Todesurteil vollstreckt worden ist. Drastisch. Aber auch bei George tröpfelt ja das Mohnblüten-Blut. Blut ist ja eine interessante Metapher für Rot, denn es ist zugleich Zeichen des Lebens und des Todes.
Liebe Irene, jetzt bin ich wieder abgeschweift. Meine Gedanken verhalten sich manchmal wie die Zweige der Rambling-Rector-Rose in unserem Garten. Sie schießen auf der Suche nach Licht endlos ins Kraut und merken gar nicht, dass sie das tragende Klettergerüst schon lange verlassen haben.
Nathaniel Hawthorne schrieb einen schönen Text über das Herbstgefühl, dass bereits der Juli mit sich bringt, ich möchte es hier einmal am Stück zitieren, weil sich Wort um Wort zu einem schönen Gedanken zusammenbindet:
Auch die Tage sind immer noch so heiß wie vor einem Monat - und doch liegt in jedem Lüftchen und Sonnenstrahl ein Hauch von Herbst. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll - mir scheint, es liegt etwas Kühles in all der Hitze und etwas Mildes im hellsten Sonnenschein. Es kann sich kein Windhauch regen, ohne dass mich mit einem herbstlichen Anflug fröstelt, und ich sehe seine nachdenkliche Pracht im weit entfernten goldenen Schimmern zwischen den langen Schatten der Bäume. Die Blumen - sogar die strahlendsten - die Goldrute und die prächtigen Lobelien, all die wunderschönen Blumen des Jahres zeigen diese sanfte Trauer in all ihrer Pracht. Der nachdenkliche Herbst kommt im Glanz einer jeden einzelnen zum Ausdruck. Ich habe diesen Anflug in einigen Jahren früher gespürt als in anderen - manchmal kann man den Herbst sogar in den ersten Tagen des Juli ausmachen. Es gibt kein Gefühl, das dem zu vergleichen ist, das von dieser schwachen, zweifelhaften, doch wirklichen Wahrnehmung oder eher Prophezeiung vom Ausklang des Jahres verursacht wird - so köstlich süß und traurig in einem Atemzug.
Nathaniel Hawthorne in das gemeinsame Tagebuch am Montag, 22. August 1842
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Du weißt ja, Juni und Juli sind in unserer Familie Geburtstagsmonate. Ich starte selbst im Mai und dann geht es bis Anfang Juli in einer Tour durch. Manchmal denke ich, es war kaum Zeit für andere Dinge. Aber mitnichten. Deine Schwester wurde 90 Jahre alt. Ich stelle mit glücklichem Erstaunen fest, es geht ihr gut im Altenheim am Eich hier in Cronenberg. Und sie kann mittlerweile wieder etwas besser gehen, weshalb wir zu ihrem Geburtstag beim Italiener waren und sie war überglücklich. Sogar die Freundinnen von Joshua und Leander waren gekommen, und wie sie da glücklich im Kreise ihrer Lieben saß – da waren es alle anderen auch.
Dieser schöne Moment tröstete und trug gut über die im Moment anstrengende Zeit hinweg. An der Uni darf ich mich in ein neues Themengebiet einarbeiten, das gelingt mir mit dem naturgewordenen Enthusiasmus sehr gut, tröstet aber nicht darüber hinweg, dass mir in drei bis vier Monaten kein Informatikstudium gelingen dürfte. Daneben müssen wir jetzt noch das Elternhaus verkaufen. Mit großem Glück erfüllt meine Frau und mich, dass wir es ohne Anzeige an liebe Menschen verkaufen konnten, die dort gerne und mit Freude leben möchten, und das in dieser Siedlung ganz in der Nähe von ihren Verwandten. Bleibt nur die Frage, was mit all den Dingen im Haus passiert. Hier gilt es eine goldene Mitte zwischen Seelenlosigkeit und zu viel verliebter Nostalgie zu finden. Alles können wir nicht behalten, nichts wäre aber auch wenig liebenswürdig. Ich habe mich entschieden, 3 Meter Bücher zu nehmen. Es sind nur jene, die ich selbst einmal gerne lesen würde und jene, die ich einmal selbst gerne gelesen habe. Denn es war mir nicht so richtig bewusst, dass meine Eltern all meine Kinderbücher aufgehoben haben.
Und wie das beim Leerräumen eines Hauses so geht, das mehr als 40 Jahre von einem lieben Ehepaar bewohnt wurde, es finden sich die erstaunlichsten Dinge. Der Bräter, aus dem wir die letzten 20 Jahre Weihnachtsessen aßen, ging zwar in den Schrott, dafür habe ich die schönen Zeichnungen behalten, die mein Vater in seiner Jugend von Hollywood-Stars anfertigte. Ich komme mit den vielen Dingen aus dem Nachlass meines Vaters ihm selbst wieder ein Stück näher und dem, was ihn sein Leben lang bewegte, nämlich die ungerechte Behandlung, die er zu Beginn seines Lebens und nach dem Krieg erfahren musste. Dem auf die Spur zu kommen und es alles aufzuschreiben, dies dürfte noch ein Weilchen Zeit in Anspruch nehmen. Nur was mit all der Aussteuer machen, nicht nur der meiner Mutter sondern auch der meiner Oma? Was tun mit all den handumstickten Kissen und Paradekissen. Paradekissen dürften auch als ausgestorbenes Relikt gelten, wahrscheinlich müsste man Menschen unter Zwanzig den Begriff erst einmal erklären. Jedenfalls ist das ganze Abwägen und über Verbleib- oder Kannweg-Entscheiden ein anstrengender Prozess, der zusätzlich neben meiner mich sehr fordernden Arbeit stattfindet. Gut, dass man den Schränken ihren Arbeitsaufwand nicht anssah.
Erschöpfend dürfte das passende Wort dafür sein, meinst Du nicht? Erschöpft, wie ein leerer Brunnen.
Etwas Erholen durfte ich mich auf dem Lande bei Radevormwald Ende Juni, es fand sich auch Zeit zu zwei Vorträgen von Thea Dorn an der Uni Wuppertal zu gehen. Den Begleitenden und Einladenden gilt mein gro0er Dank! Die heilige Therese sagte, so schrieb es Sarah Orne Jewett auf, das wahre Können der Seele sein nicht, viel zu denken, sondern viel zu lieben ... Und Allessandro Manzoni gelang es das Wesen der Freundschaft in einen einfachen Satz zu kleiden: »Eine rechte Tröstlichkeit in diesem Leben ist die Freundschaft; und eine der Tröstungen der Freundschaft ist es, daß man jemanden hat, dem man sich anvertrauen kann.«
Danke, dass es Dich gibt, dass es Euch gibt. Es ist mir immer ein dankbares Vergnügen!
Ach ja, eine Sache war da noch. Erinnert ihr Euch an das Zitat, was bei Bettine von Arnims Großvater Georg Michael Frank von La Roche (1720 - 1788) an der Wand hing?
«Alles aus Liebe, sonst geht die Welt unter.»
Darüber schrieb ich ja im Newsletter VIII, am 10. März 2025. Und da lese ich im Mai gemütlich Anne Brontës Roman ›Die Herrin von Wildfell Hall‹ und worüber stolpere ich da? Die Erwähnung eines Dramas von John Dryden (1631 - 1700). Und wie heißt es?
»All for Love or the World Well lost«
Das Drama war Drydens größter Erfolg. Love conquers all. Das ist irgendwie kein Zufall. Das kann ja jetzt bei den Lebensdaten eigentlich nicht sein, dass da der eine da vom anderen abgeschrieben hat, oder. Was meinst Du? Es muss also wahrscheinlich eine ältere Quelle geben. Zur griechischen oder lateinischen Quelle bin ich aber noch nicht vorgedrungen, wenn Du eine Idee hast, dann schreib mir doch bitte.
Lass es Dir gut gehen und bleib weg von offenen Fenstern!
Alles aus Liebe, sonst geht die Welt unter.
Dein Thomas
Post scriptum: Dies ist die einjährige Jubiläumsausgabe. Schon 12 Ausgaben. Vielen Dank an Dich für Deine Aufmerksamkeit und Geduld!
# Quellen:
Juli-Schwermut
Blumen des sommers duftet ihr noch so reich:
Ackerwinde im herben saatgeruch
Du ziehst mich nach am dorrenden geländer
Mir ward der stolzen gärten sesam fremd.
Aus dem vergessen lockst du träume: das kind
Auf keuscher scholle rastend des ährengefilds
In ernte-gluten neben nackten schnittern
Bei blanker sichel und versiegtem krug.
Schläfrig schaukelten wespen im mittagslied
Und ihm träufelten auf die gerötete stirn
Durch schwachen schutz der halme-schatten
Des mohnes blätter: breite tropfen blut.
Nichts was mir je war raubt die vergänglichkeit.
Schmachtend wie damals lieg ich in schmachtender flur
Aus mattem munde murmelt es: wie bin ich
Der blumen müd · der schönen blumen müd!
Reiners, Ludwig (Hrsg.) und von Schirnding, Albert (Hrsg.) : _Der ewige Brunnen: ein Hausbuch deutscher Dichtung_. Jubiläumsausgabe. München: C.H.Beck, 2005. Seite 353f
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Peabody Hawthorne, Sophia; Hawthorne, Nathaniel, Alexander Pechmann (Übers.), und Peter Handke (Vorwort). Das Paradies der kleinen Dinge: ein gemeinsames Tagebuch. 2. Auflage. Salzburg Wien: Jung und Jung, 2014.
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Jewett, Sarah Orne; Schnack, Elisabeth (Übers.) : Das Land der spitzen Tannen. Zürich: Manesse Verlag, 1961. Mit einem Nachwort von Elisabeth Schnack. Seite 341
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»Eine rechte Tröstlichkeit in diesem Leben ist die Freundschaft; und eine der Tröstungen der Freundschaft ist es, daß man jemanden hat, dem man sich anvertrauen kann. Doch sind die Freunde nicht Paare wie die Gatten; ihrer jeder hat mehrere weitere Freunde, so daß sie allesamt eine Kette bilden, deren Anfang und Ende niemand kennt. Entschließt sich also ein Freund, sein Geheimnis im Busen eines andern zu bergen, so vermittelt er diesem gleichzeitig den Wunsch, sich auch seinerseits die gleiche Erleichterung zu verschaffen.«
Interessant ist es, die verschiedenen Übersetzungen miteinander zu vergleichen. So wurde aus der Tröstlichkeit der Trost (Übers. von Bülow 1828), aus dem Trost die Wohltat (Junkers 1960), aus der Wohltat die Tröstungen. Die Tröstlichkeit ist mir aber die Liebste, weil es etwas ist wie eine Angelegenheit, und nichts wie eine Tat.
Manzoni, Alessandro; Lernet-Holenia, Alexander (Übers.) : Die Verlobten; 6. Auflage. Mit einem Nachwort von Giuseppe Zoppi. Manesse-Bibliothek der Weltliteratur, Manesse-Verlag, Zürich 1988. Übersetzung und erste Auflage stammt von 1958, Seite 231
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Brontë, Anne; Kipp, Sabine (Übers.) : Die Herrin von Wildfell Hall. Manesse-Bibliothek der Weltliteratur. Manesse-Verlag, Zürich 1990.