Briefe an Irene IX - April 2025

Apr 14, 2025 1:33 pm


Wuppertal, Montag, 14. April 2025


Liebe Irene,


wie geht es Dir? Kommt nach dem sonntäglichen Regen jetzt der Frühling so richtig durch? Dem Frühling fehlte der Regen so sehr, und nicht nur dem Frühling und den Pflanzen und Blumen im Garten fehlte der Regen - er fehlte auch mir.


Samstag war ein wunderschöner Tag; mir ging es fast so wie Gustav Mahler, der im April 1885 an seinen lebenslangen Freund, Dr. Friedrich Löhr (Archäologe, Philosoph, 1859 - 1924), folgende Zeilen schrieb: »Meine Fenster stehen offen und der sonnige, duftende Frühling schaut zu mir herein, überall unendlicher Friede und Ruhe. Zu dieser schönen Stunde, die mir geschenkt ist, will ich mit Dir zusammen sein.« Mit Dir noch einmal zusammen sein, das wäre schön. Sonnig, das war dieser Frühling ja schon sehr. Mahler bedankt sich für die Stunde — manchmal sollte man sich schon für köstliche Momente bedanken, oder nicht? Den Moment, in dem wir sehen, dass die Rose Rambling Rector, sogar nach einem kräftigen Rückschnitt, selbst aus fast unterarmdicken Zweigen wieder mit voller Kraft ins Leben ausbricht. Dass wir an dem Glück teilhaben können, dass der Ziersalbei (Salvia nemorosa "Ostfriesland") freudig aus vertrockneten Stengeln neue frische Triebe hervorbringt. (Über den Garten später im Brief noch mehr) Mahler schrieb weiter, mit dem Frühling sei es ihm wieder gar lind geworden und wie sich alles in ihm löste, als die Sonne überall ihre farbigen Lichter hineinwarf. (Er hielt sich damals an der Fulda in Kassel auf). Gar lind, Dir sagt das Wort bestimmt etwas, denn in Deiner Generation hat man es bestimmt noch öfter gelesen. Man sagt es so einfach: »ein lindes Lüftchen«, »gelinde gesagt« oder »ich lindere Deine Schmerzen« – hat aber wohl eigentlich vergessen, was es genau bedeutet. 


Für das Wort »lind« kennt Grimm sogar mehr als zwölf Bedeutungen; den meisten von uns modernen Menschen sind sie irgendwie verlustig gegangen. Grimm in seinem, mittlerweile digitalisierten und jedem mit Internet zugänglichen Wörterbuch, spricht davon, es habe sich einmal auf den Tastsinn bezogen. ›Lind‹ sei das, was sich weich oder glatt anfühle. Haut fühle sich so fein lind an, als ob sie sich eine ewige Jugend anmaße. Auch auf Stoffe lasse sich dies übertragen, Leinen, so lind und zart, sauber und rein. Es geht um feinen Stoff, nicht groben. Aber ›lind‹ sei eben nicht nur zart, es sei auch weich, im Gegensatz zu einem harten Bett oder einem harten Wege, man gehe eben einen linderen Weg. Aber das hast selbst Du noch niemanden sagen gehört, oder? Aber auch Töne können ›lind‹ sein, das hat den großartigen und häufig an sich zweifelnden Musiker Mahler bestimmt interessiert. Und so schreibt der Grimm weiter davon, dass man auch ›lind‹ backen könne, etwas werden auch durchs Kochen ›lind‹. Und aus dem weich und glatt wurde dann irgendwann auch leicht im Gegensatz zu schwer. Man solle die linden Speisen essen, dürfte auch in heutigen Zeiten weiterhin ein kluger Rat sein. ›lind‹, sanft und leicht kann sich aber auch auf Bewegungen beziehen, und dann ist – für mich wegen meines dauernden Interesses am Verständnis der Anmut – die linde Bewegung auch eine anmutige, wie die linden Handgriffe in die Saiten, beim Spiel einer Harfe. ›Lind‹ können uns nicht nur Hände berühren – und dann tatsächlich auf unseren seelischen Seiten spielen – ›lind‹ können tatsächlich auch die Worte sein, damit unsere Rede nicht rau, sondern sanft und weich sei. Und natürlich, und darauf bezog sich Mahler ganz bestimmt, bezieht sich ›lind‹ besonders auf das Wetter, den Sonnenschein, den Wind und den Duft, der manchmal zu uns hin weht. Es ist der linde Frühlingstag, der uns hinauslockt, der linde heitere Sonnenstrahl, der eine sprießende Birke zum leuchtend grünen Strahlen bringt. Grimm spricht von der linden Maienkühle, von den linden Frühlingsdüften — mögen wir sie neben all dem Lärm und Gestank im »unnatürlichen und unruhevollen Getriebe der großen Stadt« (Mahler, Seite 157f) noch wahrnehmen. Erfüllt von lindem Rosenduft ist es vielleicht auch leicht, ein lindes Gemüt zu zeigen.


Du hast es ja bestimmt auch die letzten Wochen gemerkt, es fiel kaum Regen. Ich habe für uns hier in Wuppertal einmal nachgerechnet, es kamen vielleicht seit Ende Februar 7 mm Niederschlag am Boden an. Dafür wölbte sich für fast 45 Tage ein blauer Himmel über uns, für diesen die Dichter seit Anbeginn der Zeit schöne und poetische Worte gefunden haben. Davon haben sich in meinem Zettelkasten schon viel Beispiele – weil ich diese Stellen besonders gerne lese – angesammelt. Der Himmel in einer Farbe von blauen Sumpfschwertlilien (Carson McSullers, S. 11), die Bienen, wie sie in »ungemessene Ferne, wie sie im blauen sonnendurchglänzten Äther verschwebten (von Arnim, S.27), der Himmel ist einfach strahlend blau (Satoshi Yagisawa, S. 141) oder er wird mit hellblauem Taft verglichen, der von der Sonne beschienen wird, wie es Goethe auf seiner italienischen Reise beschrieb (Goethe, S. 174). Der Himmel gleicht einer mit einem Pinselstrich bemalten preußisch-blauen Fläche (Sōseki Natsume, S. 177), der Himmel ist hoch und blau oder er wölbt sich in kühlem Blau, das Blau ist schön, strahlend und so friedvoll (Manzoni, S. 348). Der Himmel ist nicht nur ein Gewölbe, unter dem wir stehen, es sei sogar »das kristallene Blau des Himmelszelt« (Hodgson Burnett, S. 451), geschrieben in einer Zeit, als Kristall in den Schränken noch etwas wert war. Emerson nannte den blauen Himmel einmal »den Kalkutta-Himmel«, er schrieb weiter «Licht, Luft, Wolken, Wasser, Ufer, Vögel, Gras, Seerosenblätter waren vollkommen, und es war herrlich zu leben« (Emerson, S. 774). Im von Hans Gercke herausgegebenen Buch »Blau - zur Farbe der Ferne« steht so schön geschrieben, Blau sei »Sichtbares Zeichen der Unendlichkeit« (Gercke, S.15). Harald Braem schreibt in ›Die Macht der Farben‹ die Farbe Blau sei die visualisierte Sehnsucht nach Ruhe, Ganzheitlichkeit und der Verbundenheit mit der Alleinheit, Blau seine eine Farbe des Gemüts. (Braem, S. 57) Alleinheit - findest Du das nicht auch ein spannendes Wort? All-einheit oder Allein-heit - klar was gemeint ist? Blau ist das Empfinden der Einheit, schreibt Braem.


Aber Blau ist auch eine sehr kühle Farbe. Ein wolkenloser Himmel, unter dem ich mich nach ein paar Tagen nicht mehr wohlfühle. Warum, frage ich mich, ist das so? Forscher sagen, es würde in Zukunft immer weniger Wolken geben. In meiner Rezension zu Yagisawa Satoshi ›Die Tage in der Buchhandlung Morisaki‹ schrieb ich meinen schönen Text über »Die gemütliche Wolke«, aber auch aus dieser regnet es niemals. Ein sich über uns wölbender blauer Himmel – egal in welcher Farbnuance – ist ein regenloser Himmel, ein regungsloser Himmel. Nicht, dass wir nicht mehr im Schatten einer gemütlichen Wolke stehen könnten, nein, es ist schlimmer. Wir bleiben ohne Regen. Regen hat nicht nur ebenfalls viel Poesie (silbriger Regen, Clarke, S. 137 oder Regen, der klingt als ob man sich im Moor verlaufen habe, ebd.) und ganz zu schweigen von dem tollen Duft, den die Erde nach dem Regen verströmt – Petrichor – wir brauchen den Regen ebenso wie reine und saubere Luft zum Atmen. Ich kann nicht mehr zu diesen blauen Himmeln aufschauen, ohne dieses Gefühl des Defekts und Defizits zu verspüren. Und ich merke, wie es mich unendlich traurig und wütend zu gleich macht, dass diese ganze himmlische Dichtung und Poesie so wirkungslos gegen uns Menschen ist, die den Grund für ihre Existenz (die der naturliebenden Poetik) so einfach zerstören – die Natur. Ich frage mich, liebe Irene, was dieser Konflikt auf Dauer in meiner Seele anrichtet? Die Natur ist wie sie ist, sie ist einfach die Natur und unser Bild von ihr, ist das Bild in unserem Geist und in unserer Seele. Wenn wir die Natur zerstören, dann sind wir zerstört, denn wir lieben sie nicht mehr oder nicht mehr genug.


Ein guter Moment, um auf Liebe zurückzukommen, denn es gab und gibt sie ja, die Menschen, die die Natur liebten oder sie immer noch lieben. Und von diesen Menschen soll und muss auch erzählt werden, weil ihr Handeln und Denken, ihre Liebe und ihr Verstand einen großen Wert hat, der über einfachen Shareholder-Value hinausreicht. Meine kurze Liste von absoluten Lieblingsbüchern hat einen neuen Eintrag, es ist »Der geheime Garten« von Frances Hodgson Burnett. Sie hat dieses Buch 25 Jahre nach ›Der kleine Lord‹ geschrieben. Dieses Buch über die Entdeckung und Beschreibung eines geheimen Gartens, über die Genesung der Seele an ihm fand ich und finde es wunderschön, aber auch so spannend wie einen Krimi. Du kennst ja meine Sentimentalität, ich bin einfach zu nah am Wasser gebaut, aber bei der Lektüre habe ich mich ganz und gar mitnehmen lassen und Tränen der Freude und des Glücks geweint. 


Und dieses Buch weiß auf ganz besondere Weise dem Zauber eines intimen Gartens Freude und Poesie zu entlocken. Dazu zunächst ein Zitat, was mich tatsächlich an den Film Perfect Days von Wim Wenders erinnert hat: »Er sieht immer zum Himmel hinauf und beobachtet die Vögel im Flug – oder er schaut auf den Boden und sieht zu, wie dort alles wächst.« (Hodgson Burnett, S. 317) Und zum Himmel wird im Buch noch öfter hinauf geschaut (S. 451, S. 511) Wenders Protagonist tut dies im Film auch ständig, ich habe es mir ebenfalls angewöhnt - seit dem Film und seit dem ich alles über Wolken wissen möchte. Was mir bei diesem Buch aber ganz besonders gefällt, ist die sprachliche Liebe zu den zauberhaften Vorgängen im Garten. Der Duft der Erde, wenn man sie umgräbt; wie Pflanzen riechen, wenn der Regen auf sie niederfällt; dass nach jedem Regen wieder die Sonne scheint. Die Sonne hat die Kraft all die Pflanzen wieder aus der Erde zu holen — im Frühling. Es ist ein wunderbares Buch und wenn ich könnte, würde ich es Dir so gerne vorlesen. Es hätte Dir gefallen. Das andere Buch – noch nicht gelesen, aber ich bin überaus gespannt - ist »Sie und der Wald« von Anaïs Barbeau-Lavalette, einer Kanadierin, die beschreibt, wie zwei Familien in den Wald ziehen. Ich bin gespannt, was dieses Werk in meiner Antibibliothek über den Wald, die Natur und die Liebe zu ihr zu erzählen hat.


Enden möchte ich mit einem Zitat aus »Der geheime Garten«:


»Du zauberst gerade selbst«, entgegnete er. »Es ist derselbe Zauber, der diese Blumen hier aus der Erde geholt hat«, fügte er hinzu und berührte mit einem seiner schweren Stiefel ein Büschel Krokusse, die im Gras wuchsen. Colin sah hinunter zu den Blumen. »Ja«, sagte er langsam, »und das ist der stärkste Zauber, den es gibt – der stärkste von allen.« (Hodgson Burnett, S. 483)


Wie nannte Gustav Mahler seinen zweiten Satz der 3. Symphonie: »Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen.« (Mahler, S. 140) So schließt sich der Kreis.


Dir wünsche ich von ganzen Herzen einen schönen Frühling! Bleib gesund und freu Dich am blauen Himmel und an gemütlichen Wolken!


Dein Thomas


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Quellen:


Zum Salbei habe ich einen Blogbeitrag geschrieben

https://cronhill.de/blog/salvia-nemorosa-ostfriesland.html


Mahler, Gustav; Mahler, Alma Maria (Hrsg.) : Gustav Mahler Briefe. Paul Zsolnay Verlag, Berlin - Wien - Leipzig 1924. Quelle: https://archive.org/details/gustavmahlerbrie0000alma/ (Besucht am 7. April 2025) Seite 35


»lind«, bereitgestellt durch das digitale Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=L06080, abgerufen am14. April 2025.


Ein Buch von Menschen die lieben wollen, obwohl sie nicht zurück geliebt werden. Das Café ist der Ort an dem alles Glück endet und anfängt.

McCullers, Carson; Schnack, Elisabeth (Übers.) : Die Ballade vom traurigen Café. Diogenes Bibliothek. Diogenes Verlag, Zürich 2005.


Dazu gibt es eine ausführliche Rezension im Blog

https://cronhill.de/blog/tage-buchhandlung-morisaki.html

Yagisawa, Satoshi; Enders, Ute (Übers.) : Die Tage in der Buchhandlung Morisaki. Roman. 2. Auflage. Insel-Taschenbuch No 5037. Insel Verlag, Berlin 2023.


Ein wunderschöner Auszug aus ihren Briefen und Texten, da aber in korrekte und moderne Sprache aufbereitet nicht so nah dran wie die Neuauflage ihrer Briefe im Deutschen Klassiker Verlag.

Arnim, Bettina von; Reich, Willi (Hrsg.) : Lebensspiel. 2. Aufl., 10.-13. Tsd. Manesse-Bibliothek der Weltliteratur. Manesse-Verlag, Zürich 1985.


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Zum Graskissenbuch gibt es in den Texten von einen schönen Rückverweis, der mit Gustav Mahlers Lied der Erde zusammenhängt. Aus Teil 6, Der Abschied diese Stelle:


»Ich wandle auf und nieder mit meiner Laute

Auf Wegen, die von weichem Grase schwellen.«


Der Originaltitel bedeutet so viel wie Gras-Kopfkissen oder auf Gras gebettet. Das Schema kommt schon in der ältesten japanischen Literatur vor. Der Begriff Kusamakura beinhaltet auch Einsamkeit und Melancholie abseits der Zivilisation.

Soseki, Natsume, Langemann, Christoph (Übers.) : Das Graskissenbuch. be.bra verlag, Berlin 2020.


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Manzoni, Alessandro; Lernet-Holenia, Alexander (Übers.) : Die Verlobten; 6. Auflage. Mit einem Nachwort von Giuseppe Zoppi. Manesse-Bibliothek der Weltliteratur, Manesse-Verlag, Zürich 1988. Übersetzung und erste Auflage stammt von 1958


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Emerson, Ralph Waldo; Brôcan, Jürgen (Übersetzer) : Tagebücher: 1819 - 1877. Erste Auflage. Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin, 2022.


Gercke, Hans: Blau - Farbe der Ferne. Verlag Das Wunderhorn. Heidelberg 1990.


Braem, Harald : Die Macht der Farben. 2. Auflage, Wirtschaftsverlag Langen-Müller/Herbig, München 1987


Susanna Clarke; Grube, Anette (Übers.) : Die Damen von Grace Adieu - Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2006.


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Was für ein wunderschönes Buch dieses Werk ist, das kann ich nicht genug schreiben und empfinden. Dies ist eine schöne zweisprachige Ausgabe.

Hodgson Burnett, Frances; Mayer, Felix (Übers.) : The Secret Garden = Der Geheime Garten, Zweisprachige Ausgabe; Anaconda, Köln 2021.


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